O du mein Trost und süßes Hoffen,
Laß mich nicht länger meiner Pein;
Mein Herz und Seele steht dir offen,
O Jesu, ziehe bei mir ein.
Du Himmelslust, du Erdenwonne,
Du Gott und Mensch, du Morgenglanz,
Ach komm, du teure Gnadensonne,
Durchleuchte meine Seele ganz!
O daß du doch mein Herz dir machtest,
Zu deinem Kripplein, Kindlein hehr,
Und darin schlummertest und wachtest,
Als wenn es deine Wiege wär.
Dann wär in Wahrheit mir gegeben
Ein selig Ende meiner Pein.
Ach Herr, daß du in mir kannst leben,
Woll erst in mir geboren sein!
O Heiland, stille mein Verlangen,
Mit deines Kommens Seligkeit.
Voll Demut will ich dich empfangen,
Mein Herz und Seele steht bereit,
Mein Denken, Herr, und all mein Sinnen
Ganz deinem teuren Dienst zu weihn,
O laß mich deinen Trost gewinnen,
O Jesu, ziehe bei mir ein!
Text: Wilhelm Osterwald (1820 - 1887)
nach Heinrich Elmenhorst (1632 - 1704)
aus: "Philadelphia-Lieder", 1930,
Hrsg.: Altpietistischer Gemeinschaftsverband in Württemberg, Reutlingen, S. 67f
In diesem adventlichen Lied sind einige traditionelle Motive erkennbar: Zuerst Jesu, der "Morgenglanz", die "Gnadensonne" - Lichtmetaphern, wie sie uns auch in "Licht, das in die Welt gekommen" und "Wie schön leuchtet der Morgenstern" begegnen. Neben alttestamentarischen Weissagungen (und vermutlich bezugnehmend auf diese) gibt die Offenbarung wieder, dass Jesus von sich sagt, er sei "der helle Morgenstern". (Off. 22, 16)
In der zweiten Strophe folgt der Wunsch, das Herz möge zur "Wiege" Jesu werden. Bildlich wird damit das Sehnen ausgedrückt, sich im Innern, also ganz und gar, vom Geiste Jesu durchdringen zu lassen.
In vielen älteren Weihnachtsliedern findet man dieses Motiv, meistens im Anschluss an die Schilderung der Krippenszene. Es handelt sich bei dieser Schilderung also um mehr als eine romantisch verklärte Darstellung eines historischen Ereignisses: die konkrete Schilderung bereitet die geistliche Ausdeutung vor. Ein Beispiel dafür ist das Weihnachtslied "Ich steh an deiner Krippen hier".
Die dritte Strophe schildert noch einmal die Bereitschaft der gläubigen Seele, den Heiland zu empfangen: "O Jesu, ziehe bei mir ein!"
Der Text von Wilhelm Osterwald basiert auf einer älteren Fassung von Heinrich Elmenhorst (1). Neben der bekannte Vertonung von J.W. Franck ist er auch singbar auf die Choralmelodie: "Wie groß ist des Allmächt´gen Güte". In einer neueren Fassung des Textes von Gustav Mankel (1907 - 1987) (2) sind einige Veränderungen festzustellen: Die Strophen 1 und 3 wurden bearbeitet, Strophe 2 entfällt ganz.
In der ersten Strophe heißt es bei Mankel:
Nicht länger mag ich hier verweilen,
erfüll´ dein heilig´ Wort an mir,
laß froh mich dir entgegeneilen
und würdig stehen, Herr, vor dir!
Es fällt auf, wie sich die "Bewegungsrichtung" des beteiligten Subjektes ändert: von der stillen Haltung eines "Einziehen-Lassens" hin zu einem "laß froh mich dir entgegeneilen".
Das Ende des Liedes lautet in Mankels Fassung:
Mein Denken, all mein Tun und Sinnen
gilt dir, Herr Jesu, nur allein;
o komm, nimm deine Braut von hinnen,
in sel´gem Glauben wart´ ich dein!
Der Schwerpunkt der Aussage verschiebt sich vom persönlichen "Innewerden" Jesu auf eschatologisches Gedankengut: die Wiederkehr des Erlösers und die Entrückung der Braut (vgl. Offenbarung). Der ursprüngliche, adventliche Bezug tritt dagegen zurück, was durch Auslassen der zweiten Strophe noch unterstrichen wird. Die Fassung Mankels unterscheidet sich in Charakter und Inhalt in wesentlichen Aspekten von der Osterwalds, was Anregungen zur Liedauswahl und Interpretation geben mag.
(1) "Geistl. Lieder, schrieb M. Heinrich Elmenhorst, mit Johann Wolfgang Francken C. M. anmutigen Melodien, 1681. Die Liedertexte sind v. Wilhelm Osterwald in bessere Form gebracht u. mit den Melodien F.s f. eine Singstimme mit Klavierbegleitung v. dem Merseburger Organisten Daniel Hermann Engel 1856 in Leipzig hrsg. worden." Quelle: http://www.bautz.de/bbkl/f/franck_j_w.shtml
(2) Nr. 313 aus: Liedersammlung für die Chöre der Neuapostolischen Kirche, 1994, Verlag Friedrich Bischoff GmbH, Frankfurt a.M.