Zahlen und Fakten zur Entwicklung zeitgemäßer Kirchenmusik am Beispiel der Katholischen und Evangelischen Kirche in Deutschland p.schulz, 03/2001
Die Geschichte dessen, was wir heute als zeitgemäße geistliche Musik bezeichnen, beginnt unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Anwesenheit der amerikanischen Besatzungsmacht bringt neue musikalische Stilrichtungen nach Deutschland. Jazz, Rock 'n' Roll und Negro Spirituals werden über den Hörfunk und die Schallplatte rasch verbreitet und finden schnell eine große Masse begeisterter Zuhörer.
1956 führt der Kirchenmusiker Helmut Barbe (* 1927) sein Musical "Hallelujah Billy" auf dem Evangelischen Kirchentag in Frankfurt am Main auf. In diesem Werk verwendet er erstmals Elemente aus dem Jazz-Bereich. Das Echo auf diese Aufführung ist - vor allem bei jungen Menschen - sehr positiv. Hörgewohnheiten aus dem Alltag in der Kirche wiederzufinden, vermittelt das Gefühl, daß Glaube ein lebendiges, aktuelles Geschehen ist.
1958 wird unter der Leitung von Johannes Haas das Missionswerk "Jugend für Christus" gegründet. Auf Singetagen, Konzertreisen und mit Schallplattenproduktionen bringt diese Gruppe junger Menschen ein Repertoire aus traditioneller Vokalmusik und "Evangeliumsliedern" amerikanischen Ursprungs zu Gehör, welche sich bald darauf durch den Druck verschiedener Liederbücher rasend schnell über das ganze Land verbreiten.
Ebenfalls im Jahr 1958 werden erstmals Negro-Spirituals auf dem in Berlin stattfindenden Katholikentag vorgetragen, weitestgehend mit englischem Originaltext.
Negro-Spiritual:
Vermischung aus dem angelsächsisch-protestantisch geprägten Kirchenlied,
afrikanischer, stark rhythmisierter Musik und der religiösen Traditionen der amerikanischen Schwarzen unter der Bedingung der Sklaverei
Textinhalt gründet auf einer gezielten Auswahl biblischer Themen (vorrangig Altes Testament),
die afrikanischen Vorstellungen entgegenkommen und die Situation der Sklaven berücksichtigen
An der Spitze der Hitparade
Die Evangelische Akademie Tutzing führt im Jahr 1960 einen Liederwettbewerb durch mit der Maßgabe, daß die Kompositionen "dem von Jazz und Unterhaltungsmusik geprägten musikalischen Resonanzvermögen der Jugend entsprechen." Aus diesem Wettbewerb geht das Lied "Danke für diesen guten Morgen" (M.G. Schneider, *1930) als Sieger hervor. Es erfreut sich bald so großer Beliebtheit, daß die Schallplatteneinspielung auf den obersten Plätzen der Hitparade zu finden ist.
1965 wird der Euphorie vieler Kirchenmusiker und Chöre zunächst Einhalt geboten. Der Kölner Erzbischof Kardinal Frings untersagt die Verwendung von Jazz, Negro Spirituals und "geistlichen Schlagern" in der Kirche. Wenig später, im Mai 1966, spricht sich auch die Deutsche Bischofskonferenz (kath.) gegen diese Art der Kirchenmusik aus. Neue Hoffnung schöpfen die Reformer, als 1968 das Musical "Joseph and the Amazing Technicolor Dreamcoat" von Andrew Lloyd Webber veröffentlicht wird. Als dann 1970 dessen Musical "Jesus Christ Superstar" aufgeführt wird, setzen sich die Bemühungen nach zeitgemäßer Kirchenmusik fort.
Das "Neue Geistliche Lied"
Um 1970 entstehend in zahlreichen Gemeinden Bands (übliche Besetzung Gitarre, Klavier, Baß, Schlagzeug), in deren Musik vor allem Jugendliche eine ihnen entsprechende Ausdrucksform finden. In der Evangelischen Kirche entsteht der "Gospelrock", in der Katholischen Kirche der von P. Janssens geprägte "Sacropop". Diese kirchenmusikalischen Stilrichtungen enthalten Elemente aus nahezu allen Bereichen der Unterhaltungsmusik. Wenig später bildet sich daraus das "Neue Geistliche Lied (NGL)". 1971 wird in Köln der "Arbeitskreis Singles" gegründet, der seither regelmäßig Lieder und Arrangements aus dem Bereich NGL veröffentlicht.
In den darauffolgenden Jahren werden immer mehr neue Kompositionen veröffentlicht, teils Kirchenlieder, teils Großformen der Christlichen Popularmusik, z. B. "Menschensohn" (Sacropop - Musical von P. Janssens), "Beatmesse" (O.G. Blarr). Die Rhythmik gewinnt zunehmend an Bedeutung, die Harmonik freundet sich immer mehr mit den Dissonanzen und Akkordverbindungen der klassischen Moderne an.
1986 werden Jugendchorgruppen unter dem Namen "Ten Sing" ins Leben gerufen, die durch Musizieren, Tanz und Theater ihren Glauben zum Ausdruck bringen sollten. 1989 gibt es bereits 80 solcher Gruppen, 1994 sind es 120.
Zeitgemäße Ausdrucksformen des Glaubens
Bis heute hat sich ein nunmehr unüberschaubares Repertoire neuer christlicher Musik gebildet, in dem nahezu jeder Stilbereich abgedeckt ist. Kulturelle Vielfalt und die immer kleiner werdenden Schritte kultureller Verzweigung fordern auch von der Kirchenmusik ein ständig aktualisiertes Wesen. Die Entwicklung populärer geistlicher Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt deutlich, daß Jugend ihre eigenen Vorstellungen und Kulturen pflegt und daß sie diese auch in der christlichen Gemeinschaft vertreten sehen will. Jugend ist sehr wohl in der Lage, eigene neue und zeitgemäße Ausdrucksformen ihres Glaubens zu finden. Aufeinander zuzugehen fällt der jüngeren Generation ebenso schwer wie der älteren. Aber es ist unausweichlich.
Kirchenmusik der heutigen Zeit läßt sich vergleichen mit einem Segelschiff. Am vorderen Mast hängt das, was seinen kulturellen Wert längst bewiesen hat(!?): der traditionelle Choral, die altehrwürdige Chormotette, Konzerte und Oratorien. Am hinteren Mast hängt das Segel der zeitgemäßen Musik mit ihrer farbenreichen Stilpalette. Beide Segel sind nötig, um volle Fahrt zu machen. Gefahr droht, wenn das Schiff in der Mitte auseinanderbricht.
Merke: Das Ruder ist meist hinten!
(letzer Absatz nach P. Janssens, abgeändert vom Verfasser)
Quellen:
Peter Bubmann: Sound zwischen Himmel und Erde, Quell - Verlag 1990
Andrew W.- Dickson: Geistliche Musik, Brunnen - Verlag 1994