Psalmen - geistliche Lieder des Volkes Israel - schildern menschliche Grunderfahrungen wie Jubel, Trauer und Verzweiflung in der Hinwendung zu Gott. Zorn und Hass, aus dem Elend entstanden, bilden da keine Ausnahme, wie Psalm137 zeigt: "O du verstörte Tochter Babels: Heil dem, der dir vergelten wird, was du an uns verübst!" (1), sangen die Juden im babylonischen Exil (oder im Gedenken an diese Zeit).
Lob in der Klage
Die Psalmen dienten als kultische Gesänge im Tempel zu Jerusalem. Da das zweite Gebot innerhalb des Tempelbezirks die darstellende Kunst verwehrte ("Du sollst dir kein Bildnis machen"), wurden Poesie und Musik besonders gepflegt. Wie dort musiziert wurde, ist allerdings nicht überliefert. Mit oder ohne Instrumentalbegleitung, gemeinsam oder als Wechselgesang zwischen Gemeinde und Vorsänger - es bleibt viel Raum für Vermutungen. Manche Psalmen tragen als Überschrift Vortragsanweisungen wie "...vorzusingen, beim Saitenspiel auf acht Saiten". Sie wurden jedoch vermutlich erst nachträglich hinzugefügt, als man die zwischen dem 9. und 3. Jh. v. Chr. geänderten und überarbeiteten Gesänge im "Buch der Preisungen" (sefer tehillim) kanonisierte. Ihre zutreffende Übersetzung bereitet bis heute Schwierigkeiten.
Zum Namen des Buches schreibt Sieger: "Wichtig ist, dass das hebräische Wort für Hymnus, nämlich ["tehillim"], dann später zur Bezeichnung für den ganzen Psalter geworden ist. Und das, obwohl die Hymnen nicht einmal die Mehrzahl der darin vorkommenden Lieder ausmachen. Aber der Hebräer hat auch die Klagelieder, die Bitte und den verzweifelten Schrei nach Jahwes Hilfe unter die ["tehillim"], die Loblieder, eingeordnet. Alles gehört für ihn zum Lob Gottes." (2)
"Und wall´ ich auch im Todesschattentale..."
Während also die Musizierweise im Dunkel der Geschichte bleibt, sind die poetischen, bildhaften Texte bis heute erhalten. Sie schildern selten Vorgänge des realen Lebens, sondern meist Eindrücke und Gefühle, die sich aus jenen ergeben. Das ordnende Prinzip der Psalmen ist nicht der Reim, sondern - charakteristisch für die hebräische Literatur - die meist zweigliedrige Gestaltung der Verse ("Parallelismus membrorum").
So wird die Aufforderung "Lobe den Herrn, meine Seele" in der zweiten Vershälfte bekräftigt: "und was in mir ist, seinen heiligen Namen" (Ps. 103,1). Neben der Bestätigung können folgende Versteile auch Fortführungen oder Gegensätze beinhalten, wie Ps. 23 zeigt: "Und wall´ ich auch im Todesschattentale, so fürchte ich kein Unglück..." (3)
Sprachlich eindrucksvoll ist der stufenartige Parallelismus, bei dem einzelnen Worte beibehalten werden, während die Verse einen Gedanken weiterentwickeln oder sogar "weitertreiben".
"Herr, die Wasserströme erheben sich,
die Wasserströme erheben ihr Brausen,
die Wasserströme heben empor die Wellen..." (Psalm 93,3)
Die christliche Kirche griff die Lob- und Klagelieder ihrer jüdischen Umgebung auf; Psalmverse oder ganze Psalmen wurden Bestandteile der frühchristlichen Gottesdienstordnungen (Liturgien). Dies gilt auch für die cantica, Gesänge außerhalb des Psalters, die aber inhaltlich und formal den Psalmen gleichzustellen sind (wie das Magnificat, der "Lobgesang der Maria" in Lukas 1, 46 - 55).
Schließlich wurde den gesungenen Psalmen die Doxologie (Lobpreis) als Bekenntnis zum dreieinigen Gott hinzugefügt. Nach dem lateinischen Textanfang wird sie auch das "Gloria patri" genannt.
"Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen."
Während der weiteren Geschichte der christlichen Kirche hatten die Psalmen immer eine besondere Rolle, als private Glaubensäußerung einerseits und im Gottesdienst andererseits. Der Reformator Calvin, der die Gefahren der Musik in der Kirche fürchtete, schrieb über die Psalmen: "Darum, wir mögen suchen, wo wir wollen, wir werden keine besseren und dazu geeigneteren Lieder finden als die Psalmen Davids, die der Heilige Geist eingegeben und gemacht hat." (4) Daraus zog er allerdings den Schluss, dass ausschließlich Psalmen geeignet seien, im Gottesdienst gesungen zu werden.
Weil auch die Gemeinde Psalmen singen sollte, entstanden viele Lieder, die auf mehr oder weniger freier Nachdichtung der biblischen Texte beruhen. Ein Beispiel ist "Du, meine Seele, singe" von Paul Gerhardt, das den Psalm 146 nachzeichnet (Vergleich Lied - Bibeltext).
"Psalmen für Alletage"
...ist der Untertitel eines Buches von H. D. Hüsch und U. Seidel (5). Dieser zeigt beispielhaft, dass auch heute noch Psalmen nach- und neugedichtet werden. Die inhaltlichen Aussagen, die in ihrer Grundsätzlichkeit bis heute verständlich geblieben sind, haben durch die Jahrhunderte Menschen dazu bewegt, sich mit den Psalmen zu beschäftigen. Sie sind nicht nur historische Zeugnisse, sondern lebendiges Lob Gottes.
Anmerkungen/Quellen:
(1) Der Begriff ist hier - analog zum bekannteren "Tochter Zion" - als Symbol für das gesamte (hier: babylonische) Volk zu verstehen. zurück
(3) Psalm 23 in der Übersetzung von Moses Mendelssohn. Er empfahl 1783 folgendes: "Lies du eben so, mein Leser! wie ich geschrieben habe; wähle dir einen Psalm, wie er grade um die Zeit mit deinem Gemüthszustande überein trift: vergiß auf kurze Zeit alles dessen, so du von diesem Psalm [...] gelesen hast, lies meine Uebersetzung [...] !" [zurück]
(4) aus der Vorrede zum Genfer Reimpsalter, zitiert nach: Lehrbuch zur Grundausbildung in der evangelischen Kirchenmusik, Hrsg.: Siegfried Bauer Mitarbeit: Ingo Bredenbach Strube Verlag München, 1996 [zurück]
(5) Ich stehe unter Gottes Schutz. Psalmen für Alletage. Hanns Dieter Hüsch, Uwe Seidel. tvd-Verlag Düsseldorf GmbH, 2000