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tonica 5.1 Demoversion

Vollständige Rezension

Inhalt

  1. Exposition. Das Produkt
  2. Durchführung
    1. Der Basistest: GB 191 "Kommt her, ihr seid geladen"
    2. Der Kreativitätstest: GB 512 "Wunderbarer König"
    3. Der Ausweichungs-Test: GB 178 "In Gottes Reich geht niemand ein"
    4. Spezialtests: kirchentonale Melodien, Modulationen, andere Melodiestile
      • Kirchentonale Melodien
      • Modulationen
      • Andere Melodiestile
    5. Was sonst noch aufgefallen ist
  3. Reprise und Coda. Fazit


I. Exposition. Das Produkt

Tatort Musikmesse Frankfurt 1999. Man schlendert nichtsahnend durch die Gänge und läßt sich haufenweise mit irgendwelchen Demo-CD-ROMs zuramschen, die dann schließlich nach einmaligem Begutachten bestenfalls bei Hempels unterm Sofa, ansonsten wohl eher im Müll landen.

Nun, in meine große Stofftasche, die es gratis am Stand eines großen japanischen Herstellers von elektronischen Musikinstrumenten gab, dessen Name ähnlich einem deutschen Vornamen mit sechs Buchstaben ist, wanderte dann auch solch eine Silberscheibe des deutschen Musiksoftwareherstellers WHC, vollgepackt mit einem Querschnitt von Demoversionen aus der Produktpalette des Hauses. Ein kurzer Blick auf die Inhaltsbeschreibung: Capella - kennt man schließlich, dieses berüchtigt-beliebte Notationsprogramm, dann noch MIDI-Sequenzer, Notenscanner, Musiklehre from the very beginning: bis dato eigentlich alles ganz nett, aber nichts wahnsinnig Prickelndes. Ab damit unter das besagte Sofa ? Oder die CD-ROM dem musikalischen Mantafahrer von nebenan für seinen Rückspiegel als Fuchsschwanzersatz geben ?

Wenn da nicht noch tonica auf der CD-ROM wäre. Ein Programm, von welchem der Hersteller verspricht, daß es imstande sein soll, selbständig vierstimmige Choralsätze "im Stile alter Meister" nach vorgegebener Melodie zu kreieren. Dies weckt natürlich das Interesse des Rezensenten. Werden bald die für manche Musikstudenten nervigen Harmonielehrekurse überflüssig sein ? Werden bald alle Tonsatzdozenten unter der Brücke schlafen müssen und uns am Bahnhof mit einem vierstimmig gesungenen "Haste mal ne Mark" beglücken ?

Spaß beiseite. Die Werbung für dieses Produkt verheißt Vielversprechendes:

"Sie kennen die Situation: In einer Stunde ist Chorprobe, und Sie hatten sich vorgenommen, für Ihren Chor einen vierstimmigen Satz zum Einsingen zu schreiben... Bevor Sie mit leeren Händen dastehen, lassen Sie sich die Arbeit von tonica erledigen. tonica braucht dafür lediglich einige Sekunden ! [...]Was Sie bisher nicht für möglich gehalten haben, ist jetzt ein Kinderspiel: tonica fertigt für Sie zu jeder Melodie einen vierstimmigen Tonsatz an. Dabei orientiert sich tonica an den Regeln des vierstimmigen Tonsatzes und an dem Tonsatzstil von Johann Sebastian Bach bzw. von Max Reger (einstellbar). [...] Auf der Basis neuronaler Netze komponiert tonica wirklich im Stile alter Meister."
[<< zur Kurzbewertung]

Mal schauen, wie dicht die neuronalen Netze hier verwoben wurden, oder ob die Löcher zwischen den geistigen Fäden so groß sind, daß man hier ein Plagiat eines alzheimernden Bach oder Reger vorfindet.

Natürlich - dieser Betrachtung liegt nur eine Demoversion zugrunde, welche folgende Einschränkungen besitzt: es kann weder gedruckt noch abgespeichert werden; zudem können nur maximal vier Takte vierstimmig ausgesetzt werden (m.E. die größte Einschränkung). Zudem kann das Handbuch, in welchem ein kompletter Harmonielehrekurs vorhanden sein soll, nicht zur Bewertung herangezogen werden. Dennoch sei es erlaubt, auch mit Hilfe einer Demoversion ein Urteil zu erlauben; schließlich soll ja solch eine Version dazu dienen, einen Interessenten zu einer Kaufentscheidung zu bewegen.

Der erste Eindruck ist positiv: Das Programm läßt sich intuitiv bedienen, und in keiner Situation wird ein Handbuch vermißt. Die Gestaltung ist insgesamt übersichtlich und man steht bei der Bedienung kaum vor großen Rätseln; je nach Geschick hat man schon nach 20 Minuten die ersten Takte seines Tonsatzes konzipiert. 

Bei der Kompositionsfunktion stehen folgende Funktionen und einstellbare Parameter zur Auswahl:

  • Wahl zwischen Funktionstheorie, Stufentheorie und Roman Numeral (englische Darstellung der Stufentheorie)
  • grundlegende Wahl zwischen verschiedenen Kompositionsstilen: Johann Sebastian Bach I, Johann Sebastian Bach II, Max Reger
  • die Wahl des Harmonisierungsrhythmus: Achtel, Viertel, Halbe
  • An-/Abschalten der Bevorzugung enger Lagen
  • Umspielungen können nachträglich eingefügt werden
  • Anzeige verdeckter Quintparallelen

Ferner kann der Choral auch nur ausgesetzt werden, ohne die Funktionsangaben zu berechnen, oder aber man läßt sich die Harmonien zu einer Melodie geben, ohne daß tonica den hierzu entsprechenden Notensatz  erstellt.

Am interessantesten ist aber zweifelsohne die Option, sowohl die Harmoniefunktionen als auch den dazugehörigen vierstimmigen Satz ausgeben zu lassen. Vorab möge der der Harmonielehre nicht mächtige Leser die nun auftauchende Flut verschiedenster Termini aus dem Bereich des Tonsatzes verzeihen - einige können im Glossar (wird bald fertiggestellt) nachgeschlagen werden. Zu einem exakten Aufzeigen der Grenzen des Programms im tonsetzerischen Bereich ist die verwendete Terminologie jedoch unerläßlich. Wer in Eile ist, darf gerne zum Fazit weitergehen...

II. Durchführung

1. Der Basistest: GB 191 "Kommt her, ihr seid geladen"

Zum Austesten sei erst einmal eine Melodie eingegeben, welche eigentlich keine größeren Probleme mit sich bringen dürfte, und geschaut, was tonica daraus macht: GB191 "Kommt her, ihr seid geladen". Die erste Fermate auf dem a ist dominantisch, auf der zweiten Fermate kann die Tonika oder die Tonikaparallele erscheinen. Zudem stellt der Melodieablauf keine besonderen Ansprüche.

Schnell die vier möglichen Takte der Demoversion - die ersten zwei Fermaten - eingegeben, die Spannung steigt, nur noch ein Mausklick auf "Tonsatz" - und: Auf dem Bildschirm erscheint tatsächlich binnen Sekunden ein vierstimmiger Satz, mit Darstellung der Funktionssymbole für die Harmonien. Es werden einige Durchgangsnoten gesetzt. Das Programm kennt nicht nur Hauptharmonien, sondern auch Nebenharmonien und Paralleltonarten, wovon rege Gebrauch gemacht wird. Selbst eine (unaufgelöste) Zwischendominante läßt sich finden.

Ähnlich der Aufgabe "Finden sie soundsoviel Fehler" in Omas Rätselheft bei irgendwelchen gezeichneten Bildern sei nun ein näherer Blick auf das Opus 1 meines Rechners geworfen. Ich komme dabei gleich auf sechs Fehler in diesen vier Takten:

  • Nach dem ersten Quintsprung der Melodie (1. Takt, von der zweiten zur dritten Zählzeit) setzt tonica gleich eine verdeckte Quint- und eine verdeckte Oktavparallele. Amüsant, daß tonica diesen Fehler sogar selbst erkennt, aber nichts dagegen macht.
  • eine verdeckte Quintparallele wird erst gar nicht gefunden (von Takt 1, 4. Zählzeit, zum 2. Takt, 1. Zählzeit)
  • In einem Achteldurchgang im Baß (2. Takt, 4. Zählzeit) wird ein übermäßiger Schritt gemacht, der eigentlich mit einer Hochalteration des zweiten Durchgangstons problemlos behoben wäre; aber auf diese Idee kommt tonica leider auch nicht.
  • Fehler in der funktionstheoretischen Darstellung, zum Ersten:
    in der Kadenz zur zweiten Fermate (3. Takt, 3. Zählzeit) wird der Akkord nicht als Dominantakkord mit Quartsextvorhalt, sondern als Tonika in Quartsextakkordform bezeichnet.
  • Fehler in der funktionstheoretischen Darstellung, zum Zweiten:
    anstelle eines eindeutigen S6-Akkordes wird eine Subdominantparallele als Sextakkord angegeben.
  • Die erste Fermate wird hamoniestilistisch inkorrekt gesetzt. Es ist zwar ziemlich originell, auf die erste Fermate eine Subdominantparallele zu setzen, und gegen diese Idee würde sogar noch nicht einmal etwas sprechen. tonica bereitet jedoch diese Paralleltonart auf der Fermate in den vorherigen Zählzeiten nicht vor, sondern setzt im Vorfeld eine Subdominante und dann zweimal hintereinander eine Tonikaparallele, sodaß dieser Fermatenakkord willkürlich und planlos erscheint. Die Kadenz S - Tp - Sp als Fermatenkadenz gibt es nur bei tonica; bei Bach jedoch nicht. Wenn doch wenigstens anstelle der letzten Tonikaparallele eine Zwischendominante gesetzt worden wäre...

Es lassen sich gewisse Ansätze an kontrapunktischer Konzeption der Einzelstimmen erkennen, sie entsprechen aber bei weitem nicht dem Bach'schen Standard an Kontrapunktierkunst. Immerhin besitzt der Baß zumindest ab und zu eine Gegenbewegung zur Melodie, wobei die melodische Eigenständigkeit des Basses ansatzweise vorhanden ist. Die Mittelstimmen Alt und Tenor scheinen jedoch nur "Füllwerk" zu sein; sie besitzen kein melodisches Eigenleben. Demnach gibt es bei dem geklonten Bach keinen contrapunctus genialis, sondern eher einen contrapunctus banalis, aber immerhin schon ein Ansatz.

Also ist es doch nicht so weit her mit den Fähigkeiten des Programms?

Mal schauen, was passiert, wenn die Einstellungen verändert werden (Standardeinstellungen sind: Stil Johann Sebastian Bach I, Harmonisierungsrhythmus Viertel, keine Bevorzugung enger Lagen, Wahl immer der besten Lösung). Zuerst klicken wir mal an, daß enge Lagen bevorzugt sind. Es ändert sich nicht sehr viel; der harmonische Ablauf bleibt gleich und übernimmt die gleichen Harmonien inclusive der mißglückten Kadenz zur ersten Fermate, der fehlerhaften Funktionsbezeichnung und den verdeckten Quintparallelen. Es ist sogar noch eine neue hinzugekommen.

Also lassen wir die Option der engen Lage und probieren einmal aus, in welchem Stil Johann Sebastian Bach II komponiert; ob dies nur ein entfernter Verwandter von Johann Sebastian Bach I ist. Resultat: ein harmonisch schlichterer, nicht so gewagter Satz, wie ihn Johann Sebastian Bach I realisiert hat, dafür ohne Fehler in Satztechnik und Harmoniefolge. Es bleibt jedoch dabei, daß ein S6-Akkord und ein Dominantquartsextvorhalt nicht als solche bezeichnet werden. Dies scheint wohl ein permanenter Erkennungsfehler des Programms zu sein.

Nun bietet tonica auch noch an, einen vierstimmigen Satz im Stile Regers zu konzipieren. Achtel als Harmonisierungsrhythmus sind hierbei vorgegebener Standard. Die Stimmen des im Reger-Stil konzipierten Satzes weisen eine ausgeprägte Kontrapunktik sowohl in melodischer als auch vor allem in rhythmischer Hinsicht auf, was durchaus positiv angesehen werden kann. Die Stimmen sind eigenständig geführt - im Gegensatz zum Bachstilplagiat, der über einige Durchgangsachtel nicht hinauskommt und sich somit mit den kontrapunktischen Fähigkeiten von real Bach nicht vergleichen läßt.

Das Reger-Plagiat besitzt nicht ganz die harmonische Gewagtheit des "echten" Regers; die Harmoniewahl erinnert allzusehr an die Harmonieselektion im barocken Stil. Satztechnisch ist dieser Satz auch nicht ganz einwandfrei, da hier sogar eine offene Quintparallele und eine offene Oktavparallele Einzug halten. Nun - dies scheint ein Tribut an die kontrapunktische Stimmführung zu sein, welche wahrscheinlich Vorrang bei der Erstellung des Satzes hat. Es sollte jedoch möglich sein, richtige Satztechnik und gute Kontrapunktik in einem musikalischen Werk zusammen zu vereinigen - dem Reger ist es schließlich auch gelungen. tonica dummerweise aber nicht.

Ärgerlich ist bei diesem Satz ähnlich dem Bach-Satz die Funktionsbezeichnung (Funktionstheorie), diesmal in einer neuen Variante: Es wird eine Zwischendominante gesetzt, sogar an einer logischen Stelle, diese aber nicht als solche bezeichnet.

Abschließend sei noch einmal ausprobiert, was passiert, wenn man nicht nur immer die beste Lösung haben will, sondern sich - wie es tonica verharmlosend formuliert - "auch Alternativen anzeigen" läßt. Mit jedem Klick auf "Tonsatz" erscheint dann eine Satzalternative, und mit jedem weiteren Mausklick verschlechtert sich das Ergebnis, bis daß das musikalische Opfer vollbracht ist. Restlos. Die Stimmführungen werden immer miserabler, die Akkordkombinationen immer einfallsloser, wohingegen die satztechnischen Fehler sich unter Umständen häufen.

Vielleicht war dieser Choral nur eine Ausnahme, und vielleicht schafft es tonica bei anderen Melodien mit anderen Merkmalen, den wahrhaften Genius seiner digitalisierten Protagonisten aufblitzen zu lassen. Auch Bach und Reger haben schließlich dann und wann Machwerke komponiert, die sie später bereut haben...

2. Der Kreativitätstest: GB 512 "Wunderbarer König"

Diese Melodie stellt aufgrund ihrer Tonrepetitionen und mangelnden Melodiebewegungen eine Herausforderung an den Begleitsatz. Wenn schon die Melodie keinen Anreiz zum Hinhören bringt, muß dann dieser umso kreativer gestaltet werden, was widerum ein Erfindungsreichtum für eine reizvolle harmonische Abfolge voraussetzt, die außerdem noch zu den sich nur minimal verändernden Tönen der Melodie harmonisch paßt. Dies würde bedeuten, daß zu jedem der vier h-Noten der Sopranstimme idealerweise ein anderer Akkord gesetzt werden müßte.

Ein Klick, und : Willkommen in der Tonika-Oase !

Die ersten drei Töne der Melodie - das vierfach wiederholte h - werden nacheinander mit einer Tonika beglückt. Nun, wenn man schon unbedingt nur Tonika setzen will, gibt es doch wenigstens Umkehrungen zur Auflockerung. Aber nein, diese Banalität kann noch getoppt werden, indem dreimal die Grundform erscheint. Ohne Seitenbewegungen in Achteln oder sonstigen Auflockerungsansätzen. Immerhin - zwischen der dritten und vierten Zählzeit des ersten Taktes macht der Baß eine Durchgangsbewegung in Achteln zum darauffolgenden Akkord, der nun endlich auch keine Tonika mehr ist, sondern die Tonikaparallele. Damit die Tonika in der Grundform sich garantiert sich in den Schädel des Zuhörers einhämmert, wird sie noch einmal gnadenlos im dritten Takt zum vierfachen g in der Melodie hervorgekramt. Um all dies zu toppen, wird das, was das Programm tonica sich noch nicht im ersten Takt traute, hier Realität: die Tonika erscheint viermal hintereinander in stetig gleicher Form.

Vielleicht ist es ja die Intention des Programms tonica, mit dieser Aktion eine musikalisch-symbolische Referenz an seinen Namen zu erweisen. Dann wäre tonica widerum sehr intelligent, wenn es solch eine interpretatorische Bedeutungsebene bei der Komposition mit berücksichtigt...

Der erstellte Satz (Johann Sebastian Bach I, beste Lösung) weist keine satztechnischen Fehler wie Quint- oder Oktavparallelen auf - was eigentlich positiv gesehen werden könnte, wenn nicht die Akkordfolge mit seinen Tonikarepetitionen stellenweise so banal wäre, daß es keine Schwierigkeiten bedeutet, diesen Satz harmonisch fehlerfrei auszusetzen. Anders gesagt: wer viel Tonika setzt, der sündigt nicht...

Ein Wort noch zu den gesetzten Fermatenkadenzen: Die erste Fermate wird mit einer Dominante gesetzt, die zweite mit der Dominante der Tonikaparallele, was sich durchaus gescheit anhört und zudem andeutet, daß tonica auch Kenntnis von unaufgelösten Zwischendominanten von Nebenharmonien besitzt. Leider werden beide Fermaten wieder einmal nur schlecht vorbereitet, vor allem die zweite Fermate:  T - D - DTp.

Nun sei noch geschaut, welch holde Weisen JSB II und Reger uns als "beste Lösung" darbieten wollen. Bemerkenswert ist vor allem die Version von JSB II, welche lobenswerterweise keine satztechnischen Fehler aufweist, dafür aber bemerkenswerte Harmoniefolgen bildet. Zwar startet diese Version auch mit der vierfachen Tonika in Grundform, dann aber folgt ein recht gewagter harmonischer Ablauf. Auf der ersten Fermate setzt tonica die Doppeldominante, was ungewöhnlich, aber satztechnisch durchaus möglich, ja sogar interessant sein kann, wenn es gut gemacht wird. Diese Fermate wird durch eine Subdominantparallele als Sextakkord, einer Molldominante und der Dominante eingeleitet, was wiederum keiner Einleitung entspricht, da diese Doppeldominante ziemlich ungefestigt im Raume steht. Überhaupt hat man bei dieser Version den Eindruck, daß eine Reihe Akkorde bezuglos aneinandergereiht werden - technisch korrekt zwar, aber es hört sich alles halt- und zusammenhanglos an.

Der Reger-Satz liefert noch das beste Ergebnis ab: Wieder einmal sind die Stimmen kontrapunktisch - vor allem rhythmisch - recht eigenständig geführt, wobei allerdings eine eigenständige melodiöse Konzeption der Begleitstimmen nur schwer erkennbar ist in dem Sinne, daß sie auch als Solostimme eine interessante Melodie ergeben würden - auch dies ist eine Anforderung an den Tonsetzer. Aber bislang erfüllten auch alle anderen von tonica erstellten Versionen dieses Kriterium nicht oder nur ansatzweise. Der Reger-Satz weist sonst nur einen satztechnischen Fehler auf: eine verdeckte Quinte, die auch die Anzeigeautomatik von tonica nicht erkennt. Immerhin: Der Retorten-Reger läßt die Tonika-Oase austrocknen.

3. Der Ausweichungs-Test: GB 178 "In Gottes Reich geht niemand ein"

Eigentlich ist dies auch ein Kreativitätstest. Der Melodieverlauf erzwingt bei den ersten zwei Fermaten wegen den vorhandenen Tief- bzw. Hochalterationen Ausweichungen zu anderen Tonarten: Durch die Auflösung des Cis zum C im zweiten Takt nimmt die Melodie eine charakteristische Wendung hin zu G-Dur, wobei allerdings z.B. auch eine Ausweichung hin zur Paralleltonart E-Moll denkbar ist. Ebenso unmißverständlich wird im dritten Takt durch die Erhöhung des G zum Gis die Melodie hin zur Tonart A-Dur oder Fis-Moll bewegt. Durch diese eindeutigen Alterationen, welche typische Wendungen hin zu neuen Tonarten signalisieren, sollte tonica dazu bewegt werden, Ausweichungen zu setzen, welche diese Tonarten einleiten.

JSB I ist da ein sturer Trotzkopf; vielleicht hatte er auch nur einen schlechten Tag, weil seine Frau Anna Magdalena schlecht zu Mittag gekocht hatte. Ihm fallen absolut keine Ausweichungen ein. tonica gibt seinen Senf auch noch dazu, indem die Funktionsbezeichnungen teilweise nicht mit den Noten übereinstimmen, die Bach eingefallen sind: So erkennt tonica einen Dominantseptakkord, ohne daß eine Septime im Akkord vorhanden ist, stattdessen bereichert ein Quint-Sext-Durchgang die Harmonie.

Auf der ersten Fermate wird immerhin, wie erwartet, G-Dur gesetzt, und auf der zweiten Fermate ertönt ein A-Dur-Akkord. Die zweite Fermate wird noch halbwegs gescheit vorbereitet, obwohl die tonica bei den Funktionsbezeichnungen sich nicht traut, eine Ausweichung zu benennen und stattdessen etliche Doppeldominanten beziffert.

Zappenduster wird's hingegen bei der ersten Fermate. Nicht nur, daß keine Ausweichung nach G-Dur, ja noch nicht einmal eine klitzekleine Zwischendominante gesetzt wird. "Vorbereitet" (wenn man das so nennen darf) wird diese Tonart durch eine Molldominante als Sextakkord auf dem C in der Melodie im zweiten Takt. Dieser Akkord ist eigentlich noch nicht einmal an dieser Stelle deplaziert, da er praktischerweise klanglich der erste Akkord der Ausweichung zu G-Dur als S6-Akkord sein könnte (einmal abgesehen davon, daß - wie bereits angedeutet - tonica ein Problem hat, S6-Akkorde auch als solche zu erkennen). Er müßte nur anders beziffert werden. Auf diesen Akkord folgt nach Angabe von tonica die Tonika als Quartsextakkord. Dies erscheint ebenfalls sinnvoll; schließlich könnte dies klanglich ja auch innerhalb der Ausweichung eine Dominante zu G-Dur mit Quartsextvorhalt sein. Nur dann müßte der nächste Akkord zwingend eine normale Dominante zu G-Dur sein, und genau dies folgt nicht. Ansonsten hätte man vermuten können, daß der Tonsatz zwar eine Ausweichung gesetzt hat, diese aber funktionstheoretisch nicht erkannt worden ist. Aber nein - es folgt ein A-Dur-Akkord, der in keiner Weise dazu beiträgt, G-Dur einzuleiten. Stattdessen kommt dieser Akkord einem Schlag ins Genick gleich, da er den vorher aufgebauten Ausweichungscharakter subito zunichte macht. Zudem ist dies der Akkord, den tonica fälschlicherweise als Dominantseptakkord erkennt.

Zum Thema satztechnische Korrektheit: zwei verdeckte Quintparallelen findet tonica selber, eine dagegen nicht.
Summa summarum ist dieser Satz von JSB I schlicht und ergreifend unbrauchbar.

Die Version von Bachs Doppelgänger, Johann Sebastian Bach II, ist insgesamt etwas einfacher gestaltet, dafür satztechnisch fehlerfreier (nur noch eine verdeckte Quintparallele). Zu den Ausweichungen läßt sich sagen: Es hätte ja so schön sein können, wenn nicht...

Ja - wenn nicht ein Durchgang im Tenor vor der ersten Fermate alles vermasseln würde. tonica setzt nämlich vor der G-Dur-Fermate eine Kadenz, welche durchaus als gute Ausweichung gelten könnte, wenn man einmal davon absieht, daß die funktionstheoretische Analyse von tonica wieder keine Ausweichung erkennt, sondern immer auf D-Dur bezogen beziffert. Vor der G-Dur-Fermate setzt tonica einen D-Dur-Akkord, der zwar als Tonika bezeichnet wird, aber eigentlich die Dominante zur Fermatentonart G-Dur bedeutet. Nur leider setzt tonica im Tenor einen Achteldurchgang d-cis hinein. Durch das cis wird der aufgebaute Ausweichungscharakter komplett zerstört. Wenn doch nur stattdessen ein c stehen würde...

Bei der zweiten Fermate stellt sich das gleiche Problem wie bei der Version von JSB I: anstelle eine Ausweichung zu setzen, erscheinen in der Bezifferung viele Doppeldominanten. Dabei erfindet die Funktionsbezeichnung eine Kuriosität: es gibt angeblich eine Doppeldominante mit der Sept im Baß und der Sept in den Oberstimmen, also mit Septimverdopplung ! Zum Gück entspricht der tatsächlich gesetzte Akkord nicht dem, was die Funktionsbezifferung fälschlicherweise vorgaukelt. Ein Sekundakkord mit Septimverdopplung wäre nämlich satztechnisch so ziemlich das Falscheste, was es gibt. Tonica muß sich ankreiden lassen, Fehler in den Funktionsbezeichnungen zu machen.

Die Fehler in den Funktionsbezeichnungen häufen sich in der Version im Stile Max Regers. Eigentlich sollte die Analyse der funktionstheoretischen Bezeichnungen nicht Gegenstand dieses Tests sein - sie sind jedoch so offensichtlich, daß nicht über sie hinweggesehen werden sollte. So setzt tonica endlich einmal einen verminderten Sominantseptakkord, erkennt diesen aber nicht als DV, sondern umständlich als verkürzte Dominantparallele mit der Terz im Baß, der Septime und der tiefalterierten None. Dies ist zwar richtig, nennt sich aber verminderter Dominantseptakkord und besitzt seine eigene funktionstheoretische Schreibweise, die tonica anscheinend nicht kennt. Letztendlich haben wir hier einen DV-Akkord vorliegen, welcher sich auf die nicht erscheinende Subdominantparallele bezieht, also als Ellipse gesetzt ist. Tonica macht daraus ein unverständliches Kuddelmuddel.

Weiterhin erkennt tonica einen Dominantseptakkord als Quintsextakkord, obwohl überhaupt keine Septime im Akkord vorhanden ist.

Nun aber zur Qualität der Fermatenvorbereitung: Es wird funktionstheoretisch keine Ausweichung zum E-Moll-Akkord der ersten Fermate gesetzt. Immerhin: endlich einmal die Subdominantparallele auf dieser Fermate. Eingeleitet wird dieses E-Moll durch den bereits diskutierten DV zu E-Moll, der Subdominante zu D-Dur, welches eigentlich die Durparallele zu E-moll ist und damit gar nicht so unangebracht erscheint, dem E-Moll, und schließlich der Dominantparallele zu D-Dur und der Dominante zu D-Dur, welche widerum relativ bezuglos zu dem darauffolgenden E-Moll auf der Fermate sind.

Insgesamt läst sich sagen, daß tonica keine gezielten Ausweichungen setzen und diese erst recht nicht funktionsharmonisch ausdeuten kann. Es finden sich zwar immer Ansätze, welche dann aber ständig durch irgendeinen deplazierten Akkord oder Ton zunichte gemacht werden.

4. Spezialtests: kirchentonale Melodien, Modulationen, andere Melodiestile

Kirchentonale Melodien

Im Zeitalter des Barock wurden die älteren Kirchenmelodien, welche noch nicht dur-/molltonal konzipiert waren, sondern kirchentonal, gerne dur-/mollharmonisch ausgesetzt. Auch Johann Sebastian Bach harmonisierte solche älteren Melodien dur-/molltonal, was eine besondere Herausforderung bedeutete, da solche Melodien zumeist keinen eindeutigen dur-/moll-harmonischen Ablauf vorgeben.

Als ein Musterbeispiel für Bachs Kunst der harmonischen Bearbeitung kirchentonaler Melodien kann seine Version von "Aus tiefer Not schrei ich zu Dir" (CM390) gelten. Die phrygische Melodie wurde von Bach so geschickt verarbeitet, daß sich zwar eine Dur-Moll-Tonalität ergibt, ohne aber sich auf eine konkrete Tonart zu fixieren. Stattdessen arbeitet Bach geschickt mit dem E-Dur-Akkord als Dominante zu A-Moll als wiederkehrendes Merkmal bei Fermaten mit dem E in der Melodie, ohne dieses Stück letztendlich insgesamt in A-Moll zu konzipieren, sondern mit diesem Mittel diesen Choral tonal in Schwebe zu halten, woraus gerade der Reiz dieser Harmonisierung resultiert.

Mit genau diesem Choral sei nun tonica gefüttert.
Herausgespuckt wird etwas, was nicht im Entferntesten an Bach erinnert. Tonica stößt da an eine echte Grenze und ist mit der phrygischen Melodie überfordert. Sowohl eklatante satztechnische Fehler von etlichen verdeckten Quintparallelen bis hin zu offenen, immerhin von tonica sogar erkannten Quintparallelen in den Versionen JSB I und JSB II als auch unlogische Akkordfolgen vor allem bei JSB I lassen den Schluß zu, daß die beiden in tonica implantierten Bachs mit der Melodie nicht klarkommen - im Gegensatz zum "echten" Bach vor mehr als 250 Jahren. Ständig versucht tonica, die vorhandene Melodie schlicht und ergreifend auf C-Dur zu beziehen. Noch am annehmbarsten erscheint die Akkordfolge des Reger-Plagiats. Etwas Linderung kann dadurch geschaffen werden, daß man als Tonart fälschlicherweise E-Moll eingibt - diese Tonart kommt dem Phrygisch der Melodie noch am nächsten. Dann liefert JSB I (abgesehen von zwei offenen Quintparallelen) tatsächlich einen brauchbaren Satz.

Beim Versuch der Konfrontation von Johann Sebastian Bach II und Max Reger mit der Herausforderung, zu dieser Melodie einen Satz unter der Annahme von E-Moll zu kreieren, zeigt sich ein weiteres Problem von tonica: Auf dem Bildschirm macht sich die Fehlermeldung breit, daß für Moll-Sätze von Max Reger keine neuronalen Netze existieren. Komischerweise erscheint diese Fehlermeldung auch bei dem Versuch, vom zweiten Bach einen Mollsatz einzufordern. Schade eigentlich, denn der Satz von JSB I erscheint halbwegs gelungen.

Modulationen

Da bislang tonica nie auf die Idee kam, Ausweichungen zu setzen, gilt es nun, einfach einmal zu testen, ob und wie tonica es schafft, in eine andere Tonart zu wechseln. Hierzu sei eine erdachte Melodie eingegeben, von welcher erwartet wird, daß mit dieser diatonisch von C-Dur nach Des-Dur - am besten mit dem verselbständigten Neapolitaner als Umdeutungsakkord - moduliert wird.

Das Ergebnis kann - frei nach einem Zitat von Stammapostel R. Fehr in Velbert am 13. Juni 1999 - als "Karsumpel" bezeichnet werden. Das Resultat ist irgendwie so grottenschlecht, daß dieser Musikalische Scherz geradezu zu Lachsalven und Schenkelklopfen animiert. Da werden doch einfach Melodietöne, welche sich bereits auf Des-Dur beziehen, einfach enharmonisch umgedeutet, um die Melodie doch noch irgendwie in C-Dur reinzupressen ! Und welche lustigen Akkorde so generiert werden: Ein Akkord gr. H - kl. D - kl. A - es' gibt es, und diese tolle Errungenschaft wird dann als Dominantseptakkord (!) der Dominantparallele ohne tiefalterierte None erkannt... Da ist einfach "vergessen" worden, auch noch das Es enharmonisch zu einem Dis zu machen. Zudem erkennt tonica-Funktionsanalyse keinen verkürzten Dominantseptakkord, der aber sinnigerweise als Schlußakkord auf der Endfermate steht.

Auch die Sätze der anderen beiden Protagonisten tragen nur zur Belustigung bei. Bei Modulationen stößt demnach tonica ebenfalls an eine echte Grenze.

Andere Melodiestile

Nun, in unserem neuapostolischen Liedgut dümpeln ja nicht nur alte Bach-Choräle herum. Was dem Puristen die Zornesröte ins Gesicht treibt, sei hier nun einmal versucht: wie würde z.B. Johann Sebastian Bach - in seinem zweiten Leben als tonica-Angestellter - ein Lied der Erweckungsbewegung harmonisieren und gestalten ?

Bei der Melodie "Jetzt, wo noch im Jugendlenze" (GB336) macht tonica nach all den erlebten Schlechtigkeiten überraschenderweise eine bessere Figur. Der von JSB I generierte Satz erscheint voll verwendungsfähig. Nun - der Stil der Erweckungsbewegung wird nicht nachempfunden, aber wie sollte der liebe Bach das denn auch können, wo doch diese Melodien um die 100 Jahre nach seinem körperlichen Ableben auf Erden entstanden sind. Es sei sogar die Behauptung gewagt, daß der entstandene Satz in einigen Punkten qualitativ besser ist als die vierstimmige Version in unserem Gesangbuch.

Das Resultat von JSB II erscheint jedoch wieder etwas unausgewogen und hinkt qualitativ hinter dem Ergebnis von JSB dem Ersten hinterher. Max Reger liefert hingegen wiederum solide Arbeit ab - nun, er hat ja im Gegensatz zu Bach solche Melodien ja schon zumindest theoretisch in seinem ersten Leben gekannt. Es ist jedoch fraglich, ob solch eine Überlegung bei der Konzeption von tonica eine Rolle gespielt haben...

Dieses positive Ergebnis mit Erweckungsbewegungsliedern wird mit den tonica-Varianten von GB 423 "Auf die grünen Auen führt" bestätigt, wenn man von den in fast allen von tonica präsentierten Versionen vorhandenen verdeckten Quintparallelen einmal absieht - an diesen Fehler von tonica hat man sich schon fast gewöhnt. Bedauernswerterweise deutet tonica in Takt 3 das H der Melodie enharmonisch zum Ces um. Vor allem Reger macht aus diesem Liedchen noch ein kontrapunktisches Kunstwerk.

Daß die tonica-Versionen von Erweckungsliedern subjektiv so gelungen wirken, liegt vielleicht daran, daß sie nicht die typisch marschmäßige Charakteristik der Melodien betonen, sondern ihr harmonische Individualität verleihen und damit gerade marschuntypisch werden.

Auch die bekannte romantische Melodie "Ich bete an die Macht der Liebe" (GB228) bereitet tonica keine Probleme, und selbst Bach macht es kein Kopfzerbrechen, eine Melodie annehmbar zu harmonisieren, welche 72 Jahre nach seinem Tode entstanden ist. Reger als genuiner Romantiker liefert die brauchbarste Version ab, die durchaus interessant gestaltet ist (mit Viertel als Harmonisierungsrhythmus). Allerdings wird bei allen Versionen der ruhige, getragene Charakter der Melodie nicht berücksichtigt und stattdessen hierbei unnötigerweise auf Deubel komm raus rhythmisch kontrapunktiert, was nicht unbedingt angebracht erscheint. Nun - es wäre schön, wenn tonica noch in der Lage wäre, den Charakter der Melodie in der Harmonisierung nachzuempfinden, aber dies erscheint zugegebenermaßen ein sehr hoher Programmieraufwand zu sein.

Immerhin - Bach schien kein Säufer gewesen zu sein. Mit der Harmonisierung des Titels "Bier her, Bier her, oder ich fall um" kommen beide Bachs überhaupt nicht klar. Vielleicht entstanden diese Versionen auch schon im fortgeschrittenen Delirium; auf jeden Fall wird hier wieder satztechnisch und in seiner Harmoniefolge total unbrauchbarer Satz produziert. Reger produziert dagegen wunderbar schwankende Mittelstimmen, welche die Textaussage ungewollt, aber wunderbar unterstreichen...

Das schnulzige Metier liegt den beiden Bachs besser. "Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt" ist satztechnisch in beiden Bach-Varianten zwar auch nicht o.k., aber zumindest von der gewählten Akkordfolge anhörbar. Richtig Stimmung kommt bei der Reger-Version dieses Schlagers auf, der unfreiwillig komisch reichlich verminderte Dominantseptakkorde hineinbaut (wovon einer fälschlicherweise direkt in die Tonika-Grundform aufgelöst wird).

Was alle auf der CD-ROM implantierten Komponisten gut beherrschen, sei zum Abschluß noch erwähnt: die legendäre Phrase "Born to be Wild". Überraschenderweise gerade die Bach-Versionen sind im Bereich des Annehmbaren. Und - ausgerechnet in diesem Beispiel wird tatsächlich einmal an einer sinnvollen Stelle eine Zwischendominante eingesetzt.

5. Was sonst noch aufgefallen ist

  • Beide in tonica eingebauten Bachs kommen nie auf die Idee, auch einmal Synkopen im Baß und/oder zumindest in den Nebenstimmen zu setzen.
  • Die im Stile Regers erstellten Versionen sind zwar kontrapunktisch aufwendig gestaltet. Man vermißt allerdings gerade bei Reger Variationen in der Gestaltung der Begleitstimmen. Jede Version zielt eigentlich nur darauf ab, ein möglichst polyphonen Satz mit eigenständig geführten Stimmen zu präsentieren - dies entspricht zwar durchaus dem Stile Regers, repräsentiert allerdings nur eine von vielen Facetten seiner gestalterischen Kreativität. Der Reger, wie er hier dargestellt wird, ist hingegen stilistisch eindimensional.
  • tonica traut sich nicht, auch einmal eine oder gar mehrere Begleitstimmen pausieren zu lassen - selbst für eine Zählzeit nicht. Ständig sind zu jedem Ton der Melodie alle Stimmen präsent. Gerade aber durch das gezielte Setzen von Pausen in den Einzelstimmen können interessante Klangwirkungen realisiert werden, was sich z.B. der "echte" Reger manchmal auch zunutze gemacht hat.
  • Ein großes Manko: Es können keine Triolen eingegeben werden!!! Ebensowenig konzipiert tonica auch Triolen in den Begleitstimmen. Zur Harmonisierung von Liedern wie z.B. GB299 "Geht es auch durch Sturm und Wetter" ist tonica damit ungeeignet.
  • Tonica weigert sich, einige Akkorde, welche die Harmonielehre zu bieten hat, zu setzen. So tauchte in keiner Version der Neapolitaner auf, selbst bei den Versionen Regers nicht. Zugegebermaßen ein relativ selten vorkommender Akkord, welcher allerdings selbst dann nicht gesetzt wird, wenn die Melodie eine neapolitanische Kadenz geradezu anbietet (wenn die Melodie z.B. C-Des-H-C verläuft).
    Auch die Sixte ajoutée bleibt bei tonica unerwähnt, obwohl dieser Akkord selbst vom "echten" Bach häufiger verwendet wurde. Vielleicht hängt dies auch damit zusammen, daß auch der normale S6-Akkord von tonica unerkannt bleibt und stattdessen immer fälschlicherweise eine Subdominantparallele als Sextakkord erkannt wird.
    In einer Version gab es dann angeblich doch einmal eine "Art" Sixte ajoutée: Der Akkord  kl.C-C'-D'-A' wird in C-Dur als Sixte ajoutée mit der verdoppelten Sexte im Baß erkannt. Wie tonica zu diesem Schluß kommt, ist schleierhaft.
    Auch Gegenklänge werden vermißt.
  • Kurios: nach etmaligen Hin- und Hertransponieren und Zurückversetzen in die ursprüngliche Tonart wird die Melodie in manchen Fällen abweichend harmonisiert.
  • Da in der zum Test zur Verfügung stehenden Demoversion nur 4 Takte harmonisiert werden können, können nur maximal zwei Fermaten harmonisch ausgesetzt werden, und insofern sind nur begrenzt Rückschlüsse auf die abwechsungsreiche harmonische Gestaltung von Fermaten innerhalb eines Musikstückes möglich. Dennoch ist positiv aufgefallen, daß tonica - so denn zwei Fermaten ausgesetzt wurden - diese harmonisch unterschiedlich ausgesetzt hat, selbst wenn der Ton der Melodie der gleiche war.
  • Tonica besitzt nicht die Fähigkeit, Begleitstimmen zu einer vorgegebenen Alt-, Tenor- oder Baßstimme zu setzen. Dies mag daran liegen, daß in den Begleitstimmen keine Fermatenfunktion existiert. Ohne definierte Fermaten verweigert tonica jedoch die Arbeit. Auch das Setzen von Sopran und einem definierten Alt, Tenor oder Baß funktioniert nicht, da die selbst gesetzte zweite Stimme durch eine von tonica gewählte Stimmführung ersetzt wird.

Die stufentheoretische Darstellung bzw. Darstellung der Harmoniefunktionen im Roman-Numeral-System wird keiner Bewertung unterzogen, da meine Kenntnisse der Stufentheorie leider limitiert und fundierte Kenntnisse über das Roman-Numeral-System erst gar nicht vorhanden sind. Soweit ich es beurteilen kann, erscheinen die stufentheoretischen Angaben jedoch logisch.


III. Reprise und Coda. Fazit

Welche Kost wird uns denn nun bei der Komposition aus der Dose vorgesetzt?

tonica liefert zu einem gegebenen Sopran einen Chorsatz, welcher in groben Zügen den geltenden Regeln der Harmonielehre gerecht wird. Von fehlerfreien Sätzen kann jedoch absolut nicht die Rede sein; abhängig von der Struktur der Melodie variiert die Fehleranzahl von fast fehlerfrei bis hin zu einer Kumulation grob fahrlässiger Verstöße. Zumeist sind es "nur" verdeckte Quint-/Oktavparallelen, welche sich einstellen, dann und wann gibt es aber auch offene Quint-/Oktavparallelen, welche nicht mehr ohne weiteres toleriert werden können. tonica hat zwar eine eingebaute Erkennungsfunktion, die allerdings nicht hundertprozentig sicher funktioniert. Zudem konzipiert tonica dann und wann auch übermäßige Sprünge und Niveauüberschreitungen. Eine Harmonielehreklausur an einer Musikhochschule oder Universität würde tonica wahrscheinlich bestehen, aber vielleicht keine Note im Einser- oder Zweierbereich erzielen.

Man könnte nun einwenden, daß auch Bach und Reger ab und zu gegen diese Regeln verstoßen haben. Dies ist richtig. Man muß allerdings bedenken, daß Bach und Reger normalerweise diese Regeln zugunsten anderer Kriterien ignoriert haben: z.B. zum Erzielen einer eigenständigen Stimmführung oder zum Setzen interessanter harmonischer Abläufe.

Womit wir beim nächsten Thema unserer tonica-Bewertung wären: die künstlerische Gestaltung des vierstimmigen Satzes. Die Sätze im Bachstil weisen nur eine geringe kontrapunktische Eigenständigkeit und eine nur minimal erkennbare melödiöse Stimmführung in den Nebenstimmen auf. Die Begleitstimmen der Sätze im Reger-Stil sind kontrapunktisch ausgefeilter; es herrscht vor allem eine rhythmische Eigenständigkeit vor, wobei allerdings auch hier eine melödiöse Ausgestaltung der Nebenstimmen vermißt wird.

Auch sonstige kompositorische Goodies, wie z.B. Imitationen, das Aufgreifen von Motiven aus der Melodie in den Nebenstimmen geschweige denn das Erfinden und kontinuierliche Weiterverarbeiten eigener Motive sind tonica leider fremd. Genau diese Merkmale sind es jedoch, die die kompositorische Qualität und die künstlerische Potenz des Komponisten mitdefinieren. Ähnlich schaut es mit der Wahl der Akkorde aus: sie wirken zumeist wahllos aneinandergereiht, ohne daß irgendein übergeordnetes Gedanke bei den Harmoniekonzeptionen erkennbar ist. Es werden die gewählten Fermatenakkorde nicht genügend vorbereitet, keine Ausweichungen und erst recht keine Modulationen realisiert; dementsprechend sind erst recht weitergehende künstlerische Kriterien wie z.B. die Konzeption einer Klangdramaturgie oder aber die Verarbeitung von Akkordfolgen als definiertes Harmoniemotiv nicht einmal ansatzweise vorhanden.

Warum dieser hohe Anspruch? Die Erwartungshaltung an dieses Programm wird von der Herstellerfirma WHC recht hoch angesetzt, schließlich wird ja versprochen, daß dieses Programm "im Stile alter Meister" komponieren könne. Es ist demnach nur konsequent, die von tonica erstellten musikalischen Sätze mit genau den Kriterien zu bewerten, welche die Qualität der Kompositionen der "echten" alten Meister definieren. Genau diese Kriterien unterscheiden einen meisterhaften Komponisten von einem Dilettanten. Und genau hierin liegt der wesentliche Unterschied, der tonica von den lebenden Vorbildern unterscheidet - einmal abgesehen von den vorkommenden satztechnischen Mängeln. tonica komponiert nicht im Stile alter Meister, sondern deutet sie ansatzweise an, ohne an deren Einfallsreichtum, Kreativität, Emotionalität und kompositionstechnische Versiertheit überhaupt kratzen zu können. Selbst die Harmonisierungen im neuapostolischen Gesangbuch sind meistens besser.

Nicht unerwähnt bleiben sollten auch die Mängel in den Funktionsbezeichnungen; teilweise stimmen diese nicht mit den Akkorden überein oder definieren sie falsch. Dumm auch, daß sich keine Triolen eingeben lassen. Zudem ist es leider nicht möglich, auch einmal den cantus firmus, die Melodie, in eine andere Stimme als den Sopran zu setzen und die anderen Stimmen als Begleitstimmen aussetzen zu lassen.

Es stellt sich abschließend die Frage, für wen denn dieses Programm nützlich sein könnte. WHC nennt als Beispiel in seiner Werbung den Chorleiter, der vor einer Chorprobe händeringend nach einer Einsingübung sucht. Nun - die Sätze haben zugegebenermaßen nur die kompositorische Qualität von Einsingübungen; vom singtechnischen Schwierigkeitsgrad her sind die Sätze teilweise hierfür zu schwer. Ganz abgesehen davon: Als Dirigent besitzt man in der Regel die nötigen musikalischen Vorkenntnisse (oder man sollte sie zumindest besitzen), die dazu befähigen, sich einmal selbst mit dem Thema "Harmonielehre" auseinanderzusetzen. Kurse hierfür bietet jede Musikschule im bezahlbaren Bereich an; unter Umständen schafft man es, nach geraumer Zeit selbst Sätze zu verfassen, welche besser als die von tonica sind - und dabei noch mit den Kurskosten unter den für dieses Programm veranschlagten 128 DM zu bleiben.

Der Harmonielehrekurs von tonica kann an dieser Stelle mangels Handbuch leider nicht bewertet werden. Nach den Erfahrungen mit diesem Programm gibt es aber etliche Bedenken, da tonicas Funktionsbezeichnungen teilweise nicht einwandfrei sind und zudem die Erkennungsfunktion verdeckter Quintparallelen nicht hundertprozentig ordnungsgemäß arbeitet. Künstlerische Kriterien zur Erstellung eines Tonsatzes können wahrscheinlich überhaupt nicht vermittelt werden. Natürlich ist es problematisch, Rückschlüsse vom Programm auf den Harmonielehrekurs zu ziehen. Sofern der Harmonielehrekurs blind auf die Richtigkeit der Angaben des Programms vertraut, was sich leider meiner Kenntnis entzieht, kann dies unter Umständen bedenklich sein.

tonica kann demjenigen ein Werkzeug sein, der musikalisch relativ unerfahren ist und einen vierstimmigen Satz benötigt, ohne daß dieser irgendwelchen ästhetischen und künstlerischen Ansprüchen gerecht werden muß, und auch den einen oder anderen satztechnischen Fehler verschmerzen kann. Immerhin sind diese Sätze von tonica besser als manche von harmonielehreunkundigen Laien erstellte Sätze, mit denen dann der Chor und - als schwächstes Glied in der Kette - der gemeine Konsument in der Gemeinde zur Weihnachtsfeier oder zum Gemeindefest malträtiert wird. Dennoch sei angeraten, anstelle eines Programmkaufs sich lieber selbst einmal mit der Harmonielehre intensiv auseinanderzusetzen, sofern die Möglichkeiten dazu gegeben sind. Dann lassen sich auch die beschriebenen Unterschiede zwischen den Original-Komponisten und den geklonten Versionen und die dargelegten Fehler von tonica besser verstehen...

Vielleicht wäre dieses Urteil besser ausgefallen, wenn eine Vollversion vorgelegen hätte, die unter Umständen in etlichen Punkten qualitativ hochwertigere Ergebnisse liefern würde. Wie bereits eingangs erwähnt, dient aber dem Konsumenten meist eine Demoversion wie diese als Grundlage einer Kaufentscheidung. Aufgrund der mit dieser Demoversion gezeigten Möglichkeiten würde ich persönlich mich entschließen, mir dieses Programm definitiv nicht zuzulegen. Denn dieses Programm leistet meiner Meinung nach vor allem eins:

Roll Over B....

...und R.

30/6/1999 Dietmar Korthals