Tatort Musikmesse Frankfurt 1999. Man schlendert nichtsahnend durch die
Gänge und läßt sich haufenweise mit irgendwelchen Demo-CD-ROMs
zuramschen, die dann schließlich nach einmaligem Begutachten bestenfalls
bei Hempels unterm Sofa, ansonsten wohl eher im Müll landen.
Nun, in meine große Stofftasche, die es gratis am Stand eines großen
japanischen Herstellers von elektronischen Musikinstrumenten gab, dessen
Name ähnlich einem deutschen Vornamen mit sechs Buchstaben ist,
wanderte dann auch solch eine Silberscheibe des deutschen
Musiksoftwareherstellers WHC, vollgepackt mit einem Querschnitt von Demoversionen
aus der Produktpalette des Hauses. Ein kurzer Blick auf die
Inhaltsbeschreibung: Capella - kennt man schließlich, dieses
berüchtigt-beliebte Notationsprogramm, dann noch MIDI-Sequenzer,
Notenscanner, Musiklehre from the very beginning: bis dato eigentlich alles
ganz nett, aber nichts wahnsinnig Prickelndes. Ab damit unter das besagte
Sofa ? Oder die CD-ROM dem musikalischen Mantafahrer von nebenan für
seinen Rückspiegel als Fuchsschwanzersatz geben ?
Wenn da nicht noch tonica auf der CD-ROM wäre. Ein Programm,
von welchem der Hersteller verspricht, daß es imstande sein soll,
selbständig vierstimmige Choralsätze "im Stile alter Meister" nach
vorgegebener Melodie zu kreieren. Dies weckt natürlich das Interesse
des Rezensenten. Werden bald die für manche Musikstudenten nervigen
Harmonielehrekurse überflüssig sein ? Werden bald alle Tonsatzdozenten
unter der Brücke schlafen müssen und uns am Bahnhof mit einem
vierstimmig gesungenen "Haste mal ne Mark" beglücken ?
Spaß beiseite. Die Werbung für
dieses Produkt verheißt Vielversprechendes:
"Sie kennen die Situation: In einer Stunde ist Chorprobe, und Sie hatten
sich vorgenommen, für Ihren Chor einen vierstimmigen Satz zum Einsingen
zu schreiben... Bevor Sie mit leeren Händen dastehen, lassen Sie sich
die Arbeit von tonica erledigen. tonica braucht dafür
lediglich einige Sekunden ! [...]Was Sie bisher nicht für möglich
gehalten haben, ist jetzt ein Kinderspiel: tonica fertigt für Sie zu
jeder Melodie einen vierstimmigen Tonsatz an. Dabei orientiert sich tonica
an den Regeln des vierstimmigen Tonsatzes und an dem Tonsatzstil von Johann
Sebastian Bach bzw. von Max Reger (einstellbar). [...] Auf der Basis neuronaler
Netze komponiert tonica wirklich im Stile alter Meister."
[<< zur Kurzbewertung]
Mal schauen, wie dicht die neuronalen Netze hier verwoben wurden, oder ob
die Löcher zwischen den geistigen Fäden so groß sind, daß
man hier ein Plagiat eines alzheimernden Bach oder Reger vorfindet.
Natürlich - dieser Betrachtung liegt nur eine Demoversion zugrunde,
welche folgende Einschränkungen besitzt: es kann weder gedruckt noch
abgespeichert werden; zudem können nur maximal vier Takte vierstimmig
ausgesetzt werden (m.E. die größte Einschränkung). Zudem
kann das Handbuch, in welchem ein kompletter Harmonielehrekurs vorhanden
sein soll, nicht zur Bewertung herangezogen werden. Dennoch sei es erlaubt,
auch mit Hilfe einer Demoversion ein Urteil zu erlauben; schließlich
soll ja solch eine Version dazu dienen, einen Interessenten zu einer
Kaufentscheidung zu bewegen.
Der erste Eindruck ist positiv: Das Programm läßt sich intuitiv
bedienen, und in keiner Situation wird ein Handbuch vermißt. Die Gestaltung
ist insgesamt übersichtlich und man steht bei der Bedienung kaum vor
großen Rätseln; je nach Geschick hat man schon nach 20 Minuten
die ersten Takte seines Tonsatzes konzipiert.
Bei der Kompositionsfunktion stehen folgende Funktionen
und einstellbare Parameter zur Auswahl:
Wahl zwischen Funktionstheorie, Stufentheorie und Roman Numeral (englische
Darstellung der Stufentheorie)
grundlegende Wahl zwischen verschiedenen Kompositionsstilen: Johann Sebastian
Bach I, Johann Sebastian Bach II, Max Reger
die Wahl des Harmonisierungsrhythmus: Achtel, Viertel, Halbe
An-/Abschalten der Bevorzugung enger Lagen
Umspielungen können nachträglich eingefügt werden
Anzeige verdeckter Quintparallelen
Ferner kann der Choral auch nur ausgesetzt werden, ohne die Funktionsangaben
zu berechnen, oder aber man läßt sich die Harmonien zu einer Melodie
geben, ohne daß tonica den hierzu entsprechenden Notensatz erstellt.
Am interessantesten ist aber zweifelsohne die Option, sowohl die
Harmoniefunktionen als auch den dazugehörigen vierstimmigen Satz ausgeben
zu lassen. Vorab möge der der Harmonielehre nicht mächtige Leser
die nun auftauchende Flut verschiedenster Termini aus dem Bereich des Tonsatzes
verzeihen - einige können im Glossar (wird bald fertiggestellt)
nachgeschlagen werden. Zu einem exakten Aufzeigen der Grenzen des Programms
im tonsetzerischen Bereich ist die verwendete Terminologie jedoch
unerläßlich. Wer in Eile ist, darf gerne zum Fazit
weitergehen...
1. Der Basistest: GB 191 "Kommt her, ihr seid geladen"
Zum Austesten sei erst einmal eine Melodie eingegeben, welche eigentlich
keine größeren Probleme mit sich bringen dürfte, und geschaut,
was tonica daraus macht: GB191 "Kommt her, ihr seid geladen". Die erste Fermate
auf dem a ist dominantisch, auf der zweiten Fermate kann die Tonika oder
die Tonikaparallele erscheinen. Zudem stellt der Melodieablauf keine besonderen
Ansprüche.
Schnell die vier möglichen Takte der Demoversion - die ersten zwei Fermaten
- eingegeben, die Spannung steigt, nur noch ein Mausklick auf "Tonsatz" -
und: Auf dem Bildschirm erscheint tatsächlich binnen Sekunden ein
vierstimmiger Satz, mit Darstellung der Funktionssymbole für die Harmonien.
Es werden einige Durchgangsnoten gesetzt. Das Programm kennt nicht nur
Hauptharmonien, sondern auch Nebenharmonien und Paralleltonarten, wovon rege
Gebrauch gemacht wird. Selbst eine (unaufgelöste) Zwischendominante
läßt sich finden.
Ähnlich der Aufgabe "Finden sie soundsoviel Fehler" in Omas Rätselheft
bei irgendwelchen gezeichneten Bildern sei nun ein näherer Blick auf
das Opus 1 meines Rechners geworfen. Ich komme dabei gleich auf
sechs Fehler in diesen vier Takten:
Nach dem ersten Quintsprung der Melodie (1. Takt,
von der zweiten zur dritten Zählzeit) setzt tonica gleich eine verdeckte
Quint- und eine verdeckte Oktavparallele. Amüsant, daß tonica
diesen Fehler sogar selbst erkennt, aber nichts dagegen macht.
eine verdeckte Quintparallele wird erst gar nicht gefunden (von Takt 1, 4.
Zählzeit, zum 2. Takt, 1. Zählzeit)
In einem Achteldurchgang im Baß (2. Takt,
4. Zählzeit) wird ein übermäßiger Schritt gemacht, der
eigentlich mit einer Hochalteration des zweiten Durchgangstons problemlos
behoben wäre; aber auf diese Idee kommt tonica leider auch nicht.
Fehler in der funktionstheoretischen Darstellung,
zum Ersten:
in der Kadenz zur zweiten Fermate (3. Takt, 3. Zählzeit) wird der Akkord
nicht als Dominantakkord mit Quartsextvorhalt, sondern als Tonika in
Quartsextakkordform bezeichnet.
Fehler in der funktionstheoretischen Darstellung, zum Zweiten:
anstelle eines eindeutigen S6-Akkordes wird eine Subdominantparallele
als Sextakkord angegeben.
Die erste Fermate wird hamoniestilistisch inkorrekt
gesetzt. Es ist zwar ziemlich originell, auf die erste Fermate eine
Subdominantparallele zu setzen, und gegen diese Idee würde sogar noch
nicht einmal etwas sprechen. tonica bereitet jedoch diese Paralleltonart
auf der Fermate in den vorherigen Zählzeiten nicht vor, sondern setzt
im Vorfeld eine Subdominante und dann zweimal hintereinander eine
Tonikaparallele, sodaß dieser Fermatenakkord willkürlich und planlos
erscheint. Die Kadenz S - Tp - Sp als Fermatenkadenz
gibt es nur bei tonica; bei Bach jedoch nicht. Wenn doch wenigstens anstelle
der letzten Tonikaparallele eine Zwischendominante gesetzt worden wäre...
Es lassen sich gewisse Ansätze an
kontrapunktischer Konzeption der Einzelstimmen erkennen, sie entsprechen
aber bei weitem nicht dem Bach'schen Standard an Kontrapunktierkunst. Immerhin
besitzt der Baß zumindest ab und zu eine Gegenbewegung zur Melodie,
wobei die melodische Eigenständigkeit des Basses ansatzweise vorhanden
ist. Die Mittelstimmen Alt und Tenor scheinen jedoch nur "Füllwerk"
zu sein; sie besitzen kein melodisches Eigenleben. Demnach gibt es bei dem
geklonten Bach keinen contrapunctus genialis, sondern eher einen contrapunctus
banalis, aber immerhin schon ein Ansatz.
Also ist es doch nicht so weit her mit den Fähigkeiten des Programms?
Mal schauen, was passiert, wenn die Einstellungen verändert werden
(Standardeinstellungen sind: Stil Johann Sebastian Bach I,
Harmonisierungsrhythmus Viertel, keine Bevorzugung enger Lagen, Wahl immer
der besten Lösung). Zuerst klicken wir mal an, daß enge Lagen
bevorzugt sind. Es ändert sich nicht sehr viel; der harmonische Ablauf
bleibt gleich und übernimmt die gleichen Harmonien inclusive der
mißglückten Kadenz zur ersten Fermate, der fehlerhaften
Funktionsbezeichnung und den verdeckten Quintparallelen. Es ist sogar noch
eine neue hinzugekommen.
Also lassen wir die Option der engen Lage und probieren einmal aus, in welchem
Stil Johann Sebastian Bach II komponiert; ob dies nur ein entfernter Verwandter
von Johann Sebastian Bach I ist. Resultat: ein harmonisch schlichterer, nicht
so gewagter Satz, wie ihn Johann Sebastian Bach I realisiert hat, dafür
ohne Fehler in Satztechnik und Harmoniefolge. Es bleibt jedoch dabei, daß
ein S6-Akkord und ein Dominantquartsextvorhalt nicht als solche
bezeichnet werden. Dies scheint wohl ein permanenter Erkennungsfehler des
Programms zu sein.
Nun bietet tonica auch noch an, einen vierstimmigen Satz im Stile Regers
zu konzipieren. Achtel als Harmonisierungsrhythmus sind hierbei vorgegebener
Standard. Die Stimmen des im Reger-Stil konzipierten Satzes weisen eine
ausgeprägte Kontrapunktik sowohl in melodischer als auch vor allem in
rhythmischer Hinsicht auf, was durchaus positiv angesehen werden kann. Die
Stimmen sind eigenständig geführt - im Gegensatz zum Bachstilplagiat,
der über einige Durchgangsachtel nicht hinauskommt und sich somit mit
den kontrapunktischen Fähigkeiten von real Bach nicht vergleichen
läßt.
Das Reger-Plagiat besitzt nicht ganz die harmonische Gewagtheit des "echten"
Regers; die Harmoniewahl erinnert allzusehr an die Harmonieselektion im barocken
Stil. Satztechnisch ist dieser Satz auch nicht ganz einwandfrei, da hier
sogar eine offene Quintparallele und eine offene Oktavparallele Einzug halten.
Nun - dies scheint ein Tribut an die kontrapunktische Stimmführung zu
sein, welche wahrscheinlich Vorrang bei der Erstellung des Satzes hat. Es
sollte jedoch möglich sein, richtige Satztechnik und gute Kontrapunktik
in einem musikalischen Werk zusammen zu vereinigen - dem Reger ist es
schließlich auch gelungen. tonica dummerweise aber nicht.
Ärgerlich ist bei diesem Satz ähnlich dem Bach-Satz die
Funktionsbezeichnung (Funktionstheorie), diesmal in einer neuen Variante:
Es wird eine Zwischendominante gesetzt, sogar an einer logischen Stelle,
diese aber nicht als solche bezeichnet.
Abschließend sei noch einmal ausprobiert, was passiert, wenn man nicht
nur immer die beste Lösung haben will, sondern sich - wie es tonica
verharmlosend formuliert - "auch Alternativen anzeigen" läßt.
Mit jedem Klick auf "Tonsatz" erscheint dann eine Satzalternative, und mit
jedem weiteren Mausklick verschlechtert sich das Ergebnis, bis daß
das musikalische Opfer vollbracht ist. Restlos. Die Stimmführungen werden
immer miserabler, die Akkordkombinationen immer einfallsloser, wohingegen
die satztechnischen Fehler sich unter Umständen häufen.
Vielleicht war dieser Choral nur eine Ausnahme, und vielleicht schafft es
tonica bei anderen Melodien mit anderen Merkmalen, den wahrhaften Genius
seiner digitalisierten Protagonisten aufblitzen zu lassen. Auch Bach und
Reger haben schließlich dann und wann Machwerke komponiert, die sie
später bereut haben...
Diese Melodie stellt aufgrund ihrer Tonrepetitionen und mangelnden
Melodiebewegungen eine Herausforderung an den Begleitsatz. Wenn schon die
Melodie keinen Anreiz zum Hinhören bringt, muß dann dieser umso
kreativer gestaltet werden, was widerum ein Erfindungsreichtum für eine
reizvolle harmonische Abfolge voraussetzt, die außerdem noch zu den
sich nur minimal verändernden Tönen der Melodie harmonisch paßt.
Dies würde bedeuten, daß zu jedem der vier h-Noten der Sopranstimme
idealerweise ein anderer Akkord gesetzt werden müßte.
Ein Klick, und : Willkommen in der Tonika-Oase !
Die ersten drei Töne der Melodie - das vierfach wiederholte h - werden
nacheinander mit einer Tonika beglückt. Nun, wenn man schon unbedingt
nur Tonika setzen will, gibt es doch wenigstens Umkehrungen zur Auflockerung.
Aber nein, diese Banalität kann noch getoppt werden, indem dreimal die
Grundform erscheint. Ohne Seitenbewegungen in Achteln oder sonstigen
Auflockerungsansätzen. Immerhin - zwischen der dritten und vierten
Zählzeit des ersten Taktes macht der Baß eine Durchgangsbewegung
in Achteln zum darauffolgenden Akkord, der nun endlich auch keine Tonika
mehr ist, sondern die Tonikaparallele. Damit die Tonika in der Grundform
sich garantiert sich in den Schädel des Zuhörers einhämmert,
wird sie noch einmal gnadenlos im dritten Takt zum vierfachen g in der Melodie
hervorgekramt. Um all dies zu toppen, wird das, was das Programm tonica sich
noch nicht im ersten Takt traute, hier Realität: die Tonika erscheint
viermal hintereinander in stetig gleicher Form.
Vielleicht ist es ja die Intention des Programms tonica, mit dieser Aktion
eine musikalisch-symbolische Referenz an seinen Namen zu erweisen. Dann
wäre tonica widerum sehr intelligent, wenn es solch eine interpretatorische
Bedeutungsebene bei der Komposition mit berücksichtigt...
Der erstellte Satz (Johann Sebastian Bach I, beste Lösung) weist keine
satztechnischen Fehler wie Quint- oder Oktavparallelen auf - was eigentlich
positiv gesehen werden könnte, wenn nicht die Akkordfolge mit seinen
Tonikarepetitionen stellenweise so banal wäre, daß es keine
Schwierigkeiten bedeutet, diesen Satz harmonisch fehlerfrei auszusetzen.
Anders gesagt: wer viel Tonika setzt, der sündigt nicht...
Ein Wort noch zu den gesetzten Fermatenkadenzen: Die erste Fermate wird mit
einer Dominante gesetzt, die zweite mit der Dominante der Tonikaparallele,
was sich durchaus gescheit anhört und zudem andeutet, daß tonica
auch Kenntnis von unaufgelösten Zwischendominanten von Nebenharmonien
besitzt. Leider werden beide Fermaten wieder einmal nur schlecht vorbereitet,
vor allem die zweite Fermate: T - D - DTp.
Nun sei noch geschaut, welch holde Weisen JSB II und Reger uns als "beste
Lösung" darbieten wollen. Bemerkenswert ist vor allem die Version von
JSB II, welche lobenswerterweise keine satztechnischen Fehler aufweist,
dafür aber bemerkenswerte Harmoniefolgen bildet. Zwar startet diese
Version auch mit der vierfachen Tonika in Grundform, dann aber folgt ein
recht gewagter harmonischer Ablauf. Auf der ersten Fermate setzt tonica die
Doppeldominante, was ungewöhnlich, aber satztechnisch durchaus
möglich, ja sogar interessant sein kann, wenn es gut gemacht wird. Diese
Fermate wird durch eine Subdominantparallele als Sextakkord, einer Molldominante
und der Dominante eingeleitet, was wiederum keiner Einleitung entspricht,
da diese Doppeldominante ziemlich ungefestigt im Raume steht. Überhaupt
hat man bei dieser Version den Eindruck, daß eine Reihe Akkorde bezuglos
aneinandergereiht werden - technisch korrekt zwar, aber es hört sich
alles halt- und zusammenhanglos an.
Der Reger-Satz liefert noch das beste Ergebnis ab: Wieder einmal sind die
Stimmen kontrapunktisch - vor allem rhythmisch - recht eigenständig
geführt, wobei allerdings eine eigenständige melodiöse Konzeption
der Begleitstimmen nur schwer erkennbar ist in dem Sinne, daß sie auch
als Solostimme eine interessante Melodie ergeben würden - auch dies
ist eine Anforderung an den Tonsetzer. Aber bislang erfüllten auch alle
anderen von tonica erstellten Versionen dieses Kriterium nicht oder nur
ansatzweise. Der Reger-Satz weist sonst nur einen satztechnischen Fehler
auf: eine verdeckte Quinte, die auch die Anzeigeautomatik von tonica nicht
erkennt. Immerhin: Der Retorten-Reger läßt die Tonika-Oase
austrocknen.
3. Der Ausweichungs-Test: GB 178 "In Gottes Reich
geht niemand ein"
Eigentlich ist dies auch ein Kreativitätstest. Der Melodieverlauf erzwingt
bei den ersten zwei Fermaten wegen den vorhandenen Tief- bzw. Hochalterationen
Ausweichungen zu anderen Tonarten: Durch die Auflösung des Cis zum C
im zweiten Takt nimmt die Melodie eine charakteristische Wendung hin zu G-Dur,
wobei allerdings z.B. auch eine Ausweichung hin zur Paralleltonart E-Moll
denkbar ist. Ebenso unmißverständlich wird im dritten Takt durch
die Erhöhung des G zum Gis die Melodie hin zur Tonart A-Dur oder Fis-Moll
bewegt. Durch diese eindeutigen Alterationen, welche typische Wendungen hin
zu neuen Tonarten signalisieren, sollte tonica dazu bewegt werden, Ausweichungen
zu setzen, welche diese Tonarten einleiten.
JSB I ist da ein sturer Trotzkopf; vielleicht hatte er auch nur einen schlechten
Tag, weil seine Frau Anna Magdalena schlecht zu Mittag gekocht hatte. Ihm
fallen absolut keine Ausweichungen ein. tonica gibt seinen Senf auch noch
dazu, indem die Funktionsbezeichnungen teilweise nicht mit den Noten
übereinstimmen, die Bach eingefallen sind: So erkennt tonica einen
Dominantseptakkord, ohne daß eine Septime im Akkord vorhanden ist,
stattdessen bereichert ein Quint-Sext-Durchgang die Harmonie.
Auf der ersten Fermate wird immerhin, wie erwartet, G-Dur gesetzt, und auf
der zweiten Fermate ertönt ein A-Dur-Akkord. Die zweite Fermate wird
noch halbwegs gescheit vorbereitet, obwohl die tonica bei den
Funktionsbezeichnungen sich nicht traut, eine Ausweichung zu benennen und
stattdessen etliche Doppeldominanten beziffert.
Zappenduster wird's hingegen bei der ersten Fermate. Nicht nur, daß
keine Ausweichung nach G-Dur, ja noch nicht einmal eine klitzekleine
Zwischendominante gesetzt wird. "Vorbereitet" (wenn man das so nennen darf)
wird diese Tonart durch eine Molldominante als Sextakkord auf dem C in der
Melodie im zweiten Takt. Dieser Akkord ist eigentlich noch nicht einmal an
dieser Stelle deplaziert, da er praktischerweise klanglich der erste Akkord
der Ausweichung zu G-Dur als S6-Akkord sein könnte (einmal
abgesehen davon, daß - wie bereits angedeutet - tonica ein Problem
hat, S6-Akkorde auch als solche zu erkennen). Er müßte
nur anders beziffert werden. Auf diesen Akkord folgt nach Angabe von tonica
die Tonika als Quartsextakkord. Dies erscheint ebenfalls sinnvoll;
schließlich könnte dies klanglich ja auch innerhalb der Ausweichung
eine Dominante zu G-Dur mit Quartsextvorhalt sein. Nur dann müßte
der nächste Akkord zwingend eine normale Dominante zu G-Dur sein, und
genau dies folgt nicht. Ansonsten hätte man vermuten können, daß
der Tonsatz zwar eine Ausweichung gesetzt hat, diese aber funktionstheoretisch
nicht erkannt worden ist. Aber nein - es folgt ein A-Dur-Akkord, der in keiner
Weise dazu beiträgt, G-Dur einzuleiten. Stattdessen kommt dieser Akkord
einem Schlag ins Genick gleich, da er den vorher aufgebauten
Ausweichungscharakter subito zunichte macht. Zudem ist dies der Akkord, den
tonica fälschlicherweise als Dominantseptakkord erkennt.
Zum Thema satztechnische Korrektheit: zwei verdeckte Quintparallelen findet
tonica selber, eine dagegen nicht.
Summa summarum ist dieser Satz von JSB I schlicht und ergreifend unbrauchbar.
Die Version von Bachs Doppelgänger, Johann Sebastian Bach II, ist insgesamt
etwas einfacher gestaltet, dafür satztechnisch fehlerfreier (nur noch
eine verdeckte Quintparallele). Zu den Ausweichungen läßt sich
sagen: Es hätte ja so schön sein können, wenn nicht...
Ja - wenn nicht ein Durchgang im Tenor vor der ersten Fermate alles vermasseln
würde. tonica setzt nämlich vor der G-Dur-Fermate eine Kadenz,
welche durchaus als gute Ausweichung gelten könnte, wenn man einmal
davon absieht, daß die funktionstheoretische Analyse von tonica wieder
keine Ausweichung erkennt, sondern immer auf D-Dur bezogen beziffert. Vor
der G-Dur-Fermate setzt tonica einen D-Dur-Akkord, der zwar als Tonika bezeichnet
wird, aber eigentlich die Dominante zur Fermatentonart G-Dur bedeutet. Nur
leider setzt tonica im Tenor einen Achteldurchgang d-cis hinein. Durch das
cis wird der aufgebaute Ausweichungscharakter komplett zerstört. Wenn
doch nur stattdessen ein c stehen würde...
Bei der zweiten Fermate stellt sich das gleiche Problem wie bei der Version
von JSB I: anstelle eine Ausweichung zu setzen, erscheinen in der Bezifferung
viele Doppeldominanten. Dabei erfindet die Funktionsbezeichnung eine
Kuriosität: es gibt angeblich eine Doppeldominante mit der Sept im Baß
und der Sept in den Oberstimmen, also mit Septimverdopplung ! Zum Gück
entspricht der tatsächlich gesetzte Akkord nicht dem, was die
Funktionsbezifferung fälschlicherweise vorgaukelt. Ein Sekundakkord
mit Septimverdopplung wäre nämlich satztechnisch so ziemlich das
Falscheste, was es gibt. Tonica muß sich ankreiden lassen, Fehler in
den Funktionsbezeichnungen zu machen.
Die Fehler in den Funktionsbezeichnungen häufen sich in der Version
im Stile Max Regers. Eigentlich sollte die Analyse der funktionstheoretischen
Bezeichnungen nicht Gegenstand dieses Tests sein - sie sind jedoch so
offensichtlich, daß nicht über sie hinweggesehen werden sollte.
So setzt tonica endlich einmal einen verminderten Sominantseptakkord, erkennt
diesen aber nicht als DV, sondern umständlich als verkürzte
Dominantparallele mit der Terz im Baß, der Septime und der tiefalterierten
None. Dies ist zwar richtig, nennt sich aber verminderter Dominantseptakkord
und besitzt seine eigene funktionstheoretische Schreibweise, die tonica
anscheinend nicht kennt. Letztendlich haben wir hier einen
DV-Akkord vorliegen, welcher sich auf die nicht erscheinende
Subdominantparallele bezieht, also als Ellipse gesetzt ist. Tonica macht
daraus ein unverständliches Kuddelmuddel.
Weiterhin erkennt tonica einen Dominantseptakkord als Quintsextakkord, obwohl
überhaupt keine Septime im Akkord vorhanden ist.
Nun aber zur Qualität der Fermatenvorbereitung: Es wird funktionstheoretisch
keine Ausweichung zum E-Moll-Akkord der ersten Fermate gesetzt. Immerhin:
endlich einmal die Subdominantparallele auf dieser Fermate. Eingeleitet wird
dieses E-Moll durch den bereits diskutierten DV zu E-Moll, der
Subdominante zu D-Dur, welches eigentlich die Durparallele zu E-moll ist
und damit gar nicht so unangebracht erscheint, dem E-Moll, und schließlich
der Dominantparallele zu D-Dur und der Dominante zu D-Dur, welche widerum
relativ bezuglos zu dem darauffolgenden E-Moll auf der Fermate sind.
Insgesamt läst sich sagen, daß tonica keine gezielten Ausweichungen
setzen und diese erst recht nicht funktionsharmonisch ausdeuten kann. Es
finden sich zwar immer Ansätze, welche dann aber ständig durch
irgendeinen deplazierten Akkord oder Ton zunichte gemacht werden.
4. Spezialtests: kirchentonale Melodien, Modulationen,
andere Melodiestile
Im Zeitalter des Barock wurden die älteren Kirchenmelodien, welche noch
nicht dur-/molltonal konzipiert waren, sondern kirchentonal, gerne
dur-/mollharmonisch ausgesetzt. Auch Johann Sebastian Bach harmonisierte
solche älteren Melodien dur-/molltonal, was eine besondere Herausforderung
bedeutete, da solche Melodien zumeist keinen eindeutigen dur-/moll-harmonischen
Ablauf vorgeben.
Als ein Musterbeispiel für Bachs Kunst der harmonischen Bearbeitung
kirchentonaler Melodien kann seine Version von "Aus tiefer Not schrei ich
zu Dir" (CM390) gelten. Die phrygische Melodie wurde von Bach so geschickt
verarbeitet, daß sich zwar eine Dur-Moll-Tonalität ergibt, ohne
aber sich auf eine konkrete Tonart zu fixieren. Stattdessen arbeitet Bach
geschickt mit dem E-Dur-Akkord als Dominante zu A-Moll als wiederkehrendes
Merkmal bei Fermaten mit dem E in der Melodie, ohne dieses Stück
letztendlich insgesamt in A-Moll zu konzipieren, sondern mit diesem Mittel
diesen Choral tonal in Schwebe zu halten, woraus gerade der Reiz dieser
Harmonisierung resultiert.
Mit genau diesem Choral sei nun tonica gefüttert.
Herausgespuckt wird etwas, was nicht im Entferntesten an Bach erinnert. Tonica
stößt da an eine echte Grenze und ist mit der phrygischen Melodie
überfordert. Sowohl eklatante satztechnische Fehler von etlichen verdeckten
Quintparallelen bis hin zu offenen, immerhin von tonica sogar erkannten
Quintparallelen in den Versionen JSB I und JSB II als auch unlogische
Akkordfolgen vor allem bei JSB I lassen den Schluß zu, daß die
beiden in tonica implantierten Bachs mit der Melodie nicht klarkommen - im
Gegensatz zum "echten" Bach vor mehr als 250 Jahren. Ständig versucht
tonica, die vorhandene Melodie schlicht und ergreifend auf C-Dur zu beziehen.
Noch am annehmbarsten erscheint die Akkordfolge des Reger-Plagiats. Etwas
Linderung kann dadurch geschaffen werden, daß man als Tonart
fälschlicherweise E-Moll eingibt - diese Tonart kommt dem Phrygisch
der Melodie noch am nächsten. Dann liefert JSB I (abgesehen von zwei
offenen Quintparallelen) tatsächlich einen brauchbaren Satz.
Beim Versuch der Konfrontation von Johann Sebastian Bach II und Max Reger
mit der Herausforderung, zu dieser Melodie einen Satz unter der Annahme von
E-Moll zu kreieren, zeigt sich ein weiteres Problem von tonica: Auf dem
Bildschirm macht sich die Fehlermeldung breit, daß für
Moll-Sätze von Max Reger keine neuronalen Netze existieren. Komischerweise
erscheint diese Fehlermeldung auch bei dem Versuch, vom zweiten Bach einen
Mollsatz einzufordern. Schade eigentlich, denn der Satz von JSB I erscheint
halbwegs gelungen.
Da bislang tonica nie auf die Idee kam, Ausweichungen zu setzen, gilt es
nun, einfach einmal zu testen, ob und wie tonica es schafft, in eine andere
Tonart zu wechseln. Hierzu sei eine erdachte Melodie eingegeben, von welcher
erwartet wird, daß mit dieser diatonisch von C-Dur nach Des-Dur - am
besten mit dem verselbständigten Neapolitaner als Umdeutungsakkord -
moduliert wird.
Das Ergebnis kann - frei nach einem Zitat von Stammapostel R. Fehr in Velbert
am 13. Juni 1999 - als "Karsumpel" bezeichnet werden. Das Resultat ist irgendwie
so grottenschlecht, daß dieser Musikalische Scherz geradezu zu Lachsalven
und Schenkelklopfen animiert. Da werden doch einfach Melodietöne, welche
sich bereits auf Des-Dur beziehen, einfach enharmonisch umgedeutet, um die
Melodie doch noch irgendwie in C-Dur reinzupressen ! Und welche lustigen
Akkorde so generiert werden: Ein Akkord gr. H - kl. D - kl. A - es' gibt
es, und diese tolle Errungenschaft wird dann als Dominantseptakkord (!) der
Dominantparallele ohne tiefalterierte None erkannt... Da ist einfach
"vergessen" worden, auch noch das Es enharmonisch zu einem Dis zu machen.
Zudem erkennt tonica-Funktionsanalyse keinen verkürzten Dominantseptakkord,
der aber sinnigerweise als Schlußakkord auf der Endfermate steht.
Auch die Sätze der anderen beiden Protagonisten tragen nur zur Belustigung
bei. Bei Modulationen stößt demnach tonica ebenfalls an eine echte
Grenze.
Nun, in unserem neuapostolischen Liedgut dümpeln ja nicht nur alte
Bach-Choräle herum. Was dem Puristen die Zornesröte ins Gesicht
treibt, sei hier nun einmal versucht: wie würde z.B. Johann Sebastian
Bach - in seinem zweiten Leben als tonica-Angestellter - ein Lied der
Erweckungsbewegung harmonisieren und gestalten ?
Bei der Melodie "Jetzt, wo noch im Jugendlenze" (GB336) macht tonica nach
all den erlebten Schlechtigkeiten überraschenderweise eine bessere Figur.
Der von JSB I generierte Satz erscheint voll verwendungsfähig. Nun -
der Stil der Erweckungsbewegung wird nicht nachempfunden, aber wie sollte
der liebe Bach das denn auch können, wo doch diese Melodien um die 100
Jahre nach seinem körperlichen Ableben auf Erden entstanden sind. Es
sei sogar die Behauptung gewagt, daß der entstandene Satz in einigen
Punkten qualitativ besser ist als die vierstimmige Version in unserem Gesangbuch.
Das Resultat von JSB II erscheint jedoch wieder etwas unausgewogen und hinkt
qualitativ hinter dem Ergebnis von JSB dem Ersten hinterher. Max Reger liefert
hingegen wiederum solide Arbeit ab - nun, er hat ja im Gegensatz zu Bach
solche Melodien ja schon zumindest theoretisch in seinem ersten Leben gekannt.
Es ist jedoch fraglich, ob solch eine Überlegung bei der Konzeption
von tonica eine Rolle gespielt haben...
Dieses positive Ergebnis mit Erweckungsbewegungsliedern wird mit den
tonica-Varianten von GB 423 "Auf die grünen Auen führt"
bestätigt, wenn man von den in fast allen von tonica präsentierten
Versionen vorhandenen verdeckten Quintparallelen einmal absieht - an diesen
Fehler von tonica hat man sich schon fast gewöhnt. Bedauernswerterweise
deutet tonica in Takt 3 das H der Melodie enharmonisch zum Ces um. Vor allem
Reger macht aus diesem Liedchen noch ein kontrapunktisches Kunstwerk.
Daß die tonica-Versionen von Erweckungsliedern subjektiv so gelungen
wirken, liegt vielleicht daran, daß sie nicht die typisch
marschmäßige Charakteristik der Melodien betonen, sondern ihr
harmonische Individualität verleihen und damit gerade marschuntypisch
werden.
Auch die bekannte romantische Melodie "Ich bete an die Macht der Liebe" (GB228)
bereitet tonica keine Probleme, und selbst Bach macht es kein Kopfzerbrechen,
eine Melodie annehmbar zu harmonisieren, welche 72 Jahre nach seinem Tode
entstanden ist. Reger als genuiner Romantiker liefert die brauchbarste Version
ab, die durchaus interessant gestaltet ist (mit Viertel als
Harmonisierungsrhythmus). Allerdings wird bei allen Versionen der ruhige,
getragene Charakter der Melodie nicht berücksichtigt und stattdessen
hierbei unnötigerweise auf Deubel komm raus rhythmisch kontrapunktiert,
was nicht unbedingt angebracht erscheint. Nun - es wäre schön,
wenn tonica noch in der Lage wäre, den Charakter der Melodie in der
Harmonisierung nachzuempfinden, aber dies erscheint zugegebenermaßen
ein sehr hoher Programmieraufwand zu sein.
Immerhin - Bach schien kein Säufer gewesen zu sein. Mit der Harmonisierung
des Titels "Bier her, Bier her, oder ich fall um" kommen beide Bachs
überhaupt nicht klar. Vielleicht entstanden diese Versionen auch schon
im fortgeschrittenen Delirium; auf jeden Fall wird hier wieder satztechnisch
und in seiner Harmoniefolge total unbrauchbarer Satz produziert. Reger produziert
dagegen wunderbar schwankende Mittelstimmen, welche die Textaussage ungewollt,
aber wunderbar unterstreichen...
Das schnulzige Metier liegt den beiden Bachs besser. "Wenn bei Capri die
rote Sonne im Meer versinkt" ist satztechnisch in beiden Bach-Varianten zwar
auch nicht o.k., aber zumindest von der gewählten Akkordfolge
anhörbar. Richtig Stimmung kommt bei der Reger-Version dieses Schlagers
auf, der unfreiwillig komisch reichlich verminderte Dominantseptakkorde
hineinbaut (wovon einer fälschlicherweise direkt in die Tonika-Grundform
aufgelöst wird).
Was alle auf der CD-ROM implantierten Komponisten gut beherrschen, sei zum
Abschluß noch erwähnt: die legendäre Phrase "Born to be Wild".
Überraschenderweise gerade die Bach-Versionen sind im Bereich des
Annehmbaren. Und - ausgerechnet in diesem Beispiel wird tatsächlich
einmal an einer sinnvollen Stelle eine Zwischendominante eingesetzt.
Beide in tonica eingebauten Bachs kommen nie auf die Idee, auch einmal Synkopen
im Baß und/oder zumindest in den Nebenstimmen zu setzen.
Die im Stile Regers erstellten Versionen sind zwar kontrapunktisch aufwendig
gestaltet. Man vermißt allerdings gerade bei Reger Variationen in der
Gestaltung der Begleitstimmen. Jede Version zielt eigentlich nur darauf ab,
ein möglichst polyphonen Satz mit eigenständig geführten Stimmen
zu präsentieren - dies entspricht zwar durchaus dem Stile Regers,
repräsentiert allerdings nur eine von vielen Facetten seiner gestalterischen
Kreativität. Der Reger, wie er hier dargestellt wird, ist hingegen
stilistisch eindimensional.
tonica traut sich nicht, auch einmal eine oder gar mehrere Begleitstimmen
pausieren zu lassen - selbst für eine Zählzeit nicht. Ständig
sind zu jedem Ton der Melodie alle Stimmen präsent. Gerade aber durch
das gezielte Setzen von Pausen in den Einzelstimmen können interessante
Klangwirkungen realisiert werden, was sich z.B. der "echte" Reger manchmal
auch zunutze gemacht hat.
Ein großes Manko: Es können keine Triolen eingegeben werden!!!
Ebensowenig konzipiert tonica auch Triolen in den Begleitstimmen. Zur
Harmonisierung von Liedern wie z.B. GB299 "Geht es auch durch Sturm und Wetter"
ist tonica damit ungeeignet.
Tonica weigert sich, einige Akkorde, welche die Harmonielehre zu bieten hat,
zu setzen. So tauchte in keiner Version der Neapolitaner auf, selbst bei
den Versionen Regers nicht. Zugegebermaßen ein relativ selten vorkommender
Akkord, welcher allerdings selbst dann nicht gesetzt wird, wenn die Melodie
eine neapolitanische Kadenz geradezu anbietet (wenn die Melodie z.B. C-Des-H-C
verläuft).
Auch die Sixte ajoutée bleibt bei tonica unerwähnt, obwohl dieser
Akkord selbst vom "echten" Bach häufiger verwendet wurde. Vielleicht
hängt dies auch damit zusammen, daß auch der normale
S6-Akkord von tonica unerkannt bleibt und stattdessen immer
fälschlicherweise eine Subdominantparallele als Sextakkord erkannt
wird.
In einer Version gab es dann angeblich doch einmal eine "Art" Sixte
ajoutée: Der Akkord kl.C-C'-D'-A' wird in C-Dur als Sixte
ajoutée mit der verdoppelten Sexte im Baß erkannt. Wie tonica
zu diesem Schluß kommt, ist schleierhaft.
Auch Gegenklänge werden vermißt.
Kurios: nach etmaligen Hin- und Hertransponieren und Zurückversetzen
in die ursprüngliche Tonart wird die Melodie in manchen Fällen
abweichend harmonisiert.
Da in der zum Test zur Verfügung stehenden Demoversion nur 4 Takte
harmonisiert werden können, können nur maximal zwei Fermaten harmonisch
ausgesetzt werden, und insofern sind nur begrenzt Rückschlüsse
auf die abwechsungsreiche harmonische Gestaltung von Fermaten innerhalb eines
Musikstückes möglich. Dennoch ist positiv aufgefallen, daß
tonica - so denn zwei Fermaten ausgesetzt wurden - diese harmonisch
unterschiedlich ausgesetzt hat, selbst wenn der Ton der Melodie der gleiche
war.
Tonica besitzt nicht die Fähigkeit, Begleitstimmen zu einer vorgegebenen
Alt-, Tenor- oder Baßstimme zu setzen. Dies mag daran liegen, daß
in den Begleitstimmen keine Fermatenfunktion existiert. Ohne definierte Fermaten
verweigert tonica jedoch die Arbeit. Auch das Setzen von Sopran und einem
definierten Alt, Tenor oder Baß funktioniert nicht, da die selbst gesetzte
zweite Stimme durch eine von tonica gewählte Stimmführung ersetzt
wird.
Die stufentheoretische Darstellung bzw. Darstellung der Harmoniefunktionen
im Roman-Numeral-System wird keiner Bewertung unterzogen, da meine Kenntnisse
der Stufentheorie leider limitiert und fundierte Kenntnisse über das
Roman-Numeral-System erst gar nicht vorhanden sind. Soweit ich es beurteilen
kann, erscheinen die stufentheoretischen Angaben jedoch logisch.
Welche Kost wird uns denn nun bei der Komposition aus der Dose vorgesetzt?
tonica liefert zu einem gegebenen Sopran einen Chorsatz, welcher in groben
Zügen den geltenden Regeln der Harmonielehre gerecht wird. Von fehlerfreien
Sätzen kann jedoch absolut nicht die Rede sein; abhängig von der
Struktur der Melodie variiert die Fehleranzahl von fast fehlerfrei bis hin
zu einer Kumulation grob fahrlässiger Verstöße. Zumeist sind
es "nur" verdeckte Quint-/Oktavparallelen, welche sich einstellen, dann und
wann gibt es aber auch offene Quint-/Oktavparallelen, welche nicht mehr ohne
weiteres toleriert werden können. tonica hat zwar eine eingebaute
Erkennungsfunktion, die allerdings nicht hundertprozentig sicher funktioniert.
Zudem konzipiert tonica dann und wann auch übermäßige
Sprünge und Niveauüberschreitungen. Eine Harmonielehreklausur an
einer Musikhochschule oder Universität würde tonica wahrscheinlich
bestehen, aber vielleicht keine Note im Einser- oder Zweierbereich erzielen.
Man könnte nun einwenden, daß auch Bach und Reger ab und zu gegen
diese Regeln verstoßen haben. Dies ist richtig. Man muß allerdings
bedenken, daß Bach und Reger normalerweise diese Regeln zugunsten anderer
Kriterien ignoriert haben: z.B. zum Erzielen einer eigenständigen
Stimmführung oder zum Setzen interessanter harmonischer Abläufe.
Womit wir beim nächsten Thema unserer tonica-Bewertung wären: die
künstlerische Gestaltung des vierstimmigen Satzes. Die Sätze im
Bachstil weisen nur eine geringe kontrapunktische Eigenständigkeit und
eine nur minimal erkennbare melödiöse Stimmführung in den
Nebenstimmen auf. Die Begleitstimmen der Sätze im Reger-Stil sind
kontrapunktisch ausgefeilter; es herrscht vor allem eine rhythmische
Eigenständigkeit vor, wobei allerdings auch hier eine melödiöse
Ausgestaltung der Nebenstimmen vermißt wird.
Auch sonstige kompositorische Goodies, wie z.B. Imitationen, das Aufgreifen
von Motiven aus der Melodie in den Nebenstimmen geschweige denn das Erfinden
und kontinuierliche Weiterverarbeiten eigener Motive sind tonica leider fremd.
Genau diese Merkmale sind es jedoch, die die kompositorische Qualität
und die künstlerische Potenz des Komponisten mitdefinieren. Ähnlich
schaut es mit der Wahl der Akkorde aus: sie wirken zumeist wahllos
aneinandergereiht, ohne daß irgendein übergeordnetes Gedanke bei
den Harmoniekonzeptionen erkennbar ist. Es werden die gewählten
Fermatenakkorde nicht genügend vorbereitet, keine Ausweichungen und
erst recht keine Modulationen realisiert; dementsprechend sind erst recht
weitergehende künstlerische Kriterien wie z.B. die Konzeption einer
Klangdramaturgie oder aber die Verarbeitung von Akkordfolgen als definiertes
Harmoniemotiv nicht einmal ansatzweise vorhanden.
Warum dieser hohe Anspruch? Die Erwartungshaltung an dieses Programm wird
von der Herstellerfirma WHC recht hoch angesetzt, schließlich wird
ja versprochen, daß dieses Programm "im Stile alter Meister" komponieren
könne. Es ist demnach nur konsequent, die von tonica erstellten
musikalischen Sätze mit genau den Kriterien zu bewerten, welche die
Qualität der Kompositionen der "echten" alten Meister definieren. Genau
diese Kriterien unterscheiden einen meisterhaften Komponisten von einem
Dilettanten. Und genau hierin liegt der wesentliche Unterschied, der tonica
von den lebenden Vorbildern unterscheidet - einmal abgesehen von den vorkommenden
satztechnischen Mängeln. tonica komponiert nicht im Stile alter Meister,
sondern deutet sie ansatzweise an, ohne an deren Einfallsreichtum,
Kreativität, Emotionalität und kompositionstechnische Versiertheit
überhaupt kratzen zu können. Selbst die Harmonisierungen im
neuapostolischen Gesangbuch sind meistens besser.
Nicht unerwähnt bleiben sollten auch die Mängel in den
Funktionsbezeichnungen; teilweise stimmen diese nicht mit den Akkorden
überein oder definieren sie falsch. Dumm auch, daß sich keine
Triolen eingeben lassen. Zudem ist es leider nicht möglich, auch einmal
den cantus firmus, die Melodie, in eine andere Stimme als den Sopran zu setzen
und die anderen Stimmen als Begleitstimmen aussetzen zu lassen.
Es stellt sich abschließend die Frage, für wen denn dieses Programm
nützlich sein könnte. WHC nennt als Beispiel in seiner Werbung
den Chorleiter, der vor einer Chorprobe händeringend nach einer
Einsingübung sucht. Nun - die Sätze haben zugegebenermaßen
nur die kompositorische Qualität von Einsingübungen; vom
singtechnischen Schwierigkeitsgrad her sind die Sätze teilweise
hierfür zu schwer. Ganz abgesehen davon: Als Dirigent besitzt man in
der Regel die nötigen musikalischen Vorkenntnisse (oder man sollte sie
zumindest besitzen), die dazu befähigen, sich einmal selbst mit dem
Thema "Harmonielehre" auseinanderzusetzen. Kurse hierfür bietet jede
Musikschule im bezahlbaren Bereich an; unter Umständen schafft man es,
nach geraumer Zeit selbst Sätze zu verfassen, welche besser als die
von tonica sind - und dabei noch mit den Kurskosten unter den für dieses
Programm veranschlagten 128 DM zu bleiben.
Der Harmonielehrekurs von tonica kann an dieser Stelle mangels Handbuch leider
nicht bewertet werden. Nach den Erfahrungen mit diesem Programm gibt es aber
etliche Bedenken, da tonicas Funktionsbezeichnungen teilweise nicht einwandfrei
sind und zudem die Erkennungsfunktion verdeckter Quintparallelen nicht
hundertprozentig ordnungsgemäß arbeitet. Künstlerische Kriterien
zur Erstellung eines Tonsatzes können wahrscheinlich überhaupt
nicht vermittelt werden. Natürlich ist es problematisch,
Rückschlüsse vom Programm auf den Harmonielehrekurs zu ziehen.
Sofern der Harmonielehrekurs blind auf die Richtigkeit der Angaben des Programms
vertraut, was sich leider meiner Kenntnis entzieht, kann dies unter
Umständen bedenklich sein.
tonica kann demjenigen ein Werkzeug sein, der musikalisch relativ unerfahren
ist und einen vierstimmigen Satz benötigt, ohne daß dieser
irgendwelchen ästhetischen und künstlerischen Ansprüchen gerecht
werden muß, und auch den einen oder anderen satztechnischen Fehler
verschmerzen kann. Immerhin sind diese Sätze von tonica besser als manche
von harmonielehreunkundigen Laien erstellte Sätze, mit denen dann der
Chor und - als schwächstes Glied in der Kette - der gemeine Konsument
in der Gemeinde zur Weihnachtsfeier oder zum Gemeindefest malträtiert
wird. Dennoch sei angeraten, anstelle eines Programmkaufs sich lieber selbst
einmal mit der Harmonielehre intensiv auseinanderzusetzen, sofern die
Möglichkeiten dazu gegeben sind. Dann lassen sich auch die beschriebenen
Unterschiede zwischen den Original-Komponisten und den geklonten Versionen
und die dargelegten Fehler von tonica besser verstehen...
Vielleicht wäre dieses Urteil besser ausgefallen, wenn eine Vollversion
vorgelegen hätte, die unter Umständen in etlichen Punkten qualitativ
hochwertigere Ergebnisse liefern würde. Wie bereits eingangs erwähnt,
dient aber dem Konsumenten meist eine Demoversion wie diese als Grundlage
einer Kaufentscheidung. Aufgrund der mit dieser Demoversion gezeigten
Möglichkeiten würde ich persönlich mich entschließen,
mir dieses Programm definitiv nicht zuzulegen. Denn dieses Programm
leistet meiner Meinung nach vor allem eins: