Entscheidend für die Übekompetenz des Schülers ist die Vorbildfunktion der Unterrichtsstunde. Das Vorspielen beim Lehrer darf niemals als eine - wie niedrig auch immer angesetzte - Prüfungssituation mit nachfolgendem Urteil aufgefaßt werden.
Das Vorspielen ist nicht mehr und nicht weniger als das Material, an dem - gemeinsam mit der Hilfe des Lehrers - weiter studiert wird. Die Unterrichtsstunde ist also nicht eine Benotungsinstanz, sondern eine beflügelnde, von Hilfe und Beratung getragene Katalysationseinheit, die genug Energie freisetzt, um dem Schüler ein Weiterüben für die nächste Zeiteinheit mit Freuden zu ermöglichen:
Lust an der Literatur
Strukturierung der Literatur
Systematisierung des Übens
Formulierung von Übe-Einheiten
Eine Unterrichtstunde, die dieses nicht einmal in Ansätzen leistet, kann für den Schüler keine Hilfe sein. Angst und Ausweichen vor dem Stück und der nächsten Unterrichtsstunde sind konditioniert.
"Lust am Stück" - ist mehr als eine nebulöse romantische Künstlervorstellung, ist mehr als die spontan wahrnehmbare Emotionalität beim Hören. Musikliteratur birgt eine artikulierbare Botschaft in sich, die ihren Niederschlag in der kompositorischen Struktur des Stückes hat. Die oftmals vernehmbaren Vorbehalte, zu viele Hintergrundinformationen, ein Zuviel an Überbau schade der künstlerischen Umsetzung der Musik, gleicht eher einem Sich-Verweigern bzw. Nicht-Wahrhabenwollen dieser nüchternen Bezüge. Der Musiker ist ein Nachschaffender. Er hat sich daher das Werk gewissenhaft anzueignen. Dazu gehört, alle musikalischen Parameter des vorliegenden Stückes zu erfassen, von den "gehörten" Tönen bis zur biographischen Situation des Komponisten. Das "wie schaffe ich das" oder das "wie erkenne ich, was als nächstes zu tun ist", ist einerseits die Aufgabe des Pädagogen, der sich im Laufe der Jahre durch Gehalt und Art seiner Vermittlung selbst "überflüssig" macht. Andererseits steht die Beantwortung dieser Fragen vor uns (im wahrsten Sinne des Wortes).
Denn: Der Bauplan des Musikstückes birgt seinen erforderlichen Übeplan schon in sich. Die Leistung des Unterrichts und des Übens ist es sodann, musikimmanente Eigenschaften mit den künstlerischen, psychischen, anatomischen und spieltechnischen Möglichkeiten des Schülers so zu verbinden, daß die musikalische Aussage in der Verantwortung vor dem "Werk" zur Geltung kommen kann.
Üben ist also etwas ganz anderes als die Überwindung des Unvermögens eines Schülers. Üben ist in sich schon höchst kreative Betätigung, die in sich sowohl persönlichkeitsfördernde künstlerische freiheitliche Aspekte durch individuelle Interpretationswege fördert als auch Werten wie Disziplin, Überblick und Geduld und Selbstannahme zur Geltung verhilft.
Es gibt keine systematische Unterscheidung zwischen Unterrichtsstunde und der Zeitspanne des selbständigen Übens zwischen den Unterrichten. Jedes Stück ist dem gleichen Vorgehen zuzuführen:
Annäherung an die Literatur über das Notenbild (zunächst nicht über das Hören), Imagination des Klangbildes über das Notat
Strukturierung der Komposition (Analyse)
Ableitung der Übefelder von den Ergebnissen der Betrachtung des Notenbildes
Formulierung der Aufgabenstellung und des Übezieles
Eingrenzung und Systematisierung spieltechnischer Problemsituationen
Einteilung des zu erarbeitenden Stoffes (Wochenplan) Welche Zeit verbleibt mir zum Üben? Wann übe ich was? Was habe ich mir für heute vorgenommen? Wie vermeide ich ein "munteres Drauflosspielen" bis zum ersten "Zusammenbruch"? (Warum ist es so wichtig, dieses zu vermeiden?)
Alles, was im Raum des Übens geschieht, geschieht langsam. Dominantes Übetempo ist das Zeitlupentempo. Nur so wird ein körperlich wahrnehmbares, an der Bewegung orientiertes Spiel ermöglicht ("Zeitlupe"). Das langsame Übetempo überzeichnet und verdeutlicht somit die musikalische Struktur des jeweiligen Abschnittes.
Die Anwendung eines bestimmten Fingersatzes fügt sich in die Bewegungsorientierung ein. Fingersätze müssen dienlich sein, müssen das musikalische Ziel befördern, schaffen die Voraussetzung für Bewegung und Dynamik. Der Fingersatz hat "antistatisch" zu wirken. Fingersätze sind keine technischen Hürden, sondern "Helfer". Es gilt, sie auf die anatomischen Voraussetzungen abstimmen; nicht jeder Fingersatz ist für jeden gut.
Das erste und auch nachfolgende "Durchüben" der Einzelphrase ist einzelstimmiges und dann einzelhändiges Üben. Das heißt, dass auch im Stadium des Zusammenspiels immer wieder Einzelstimmen-Übeabschnitte einzustreuen sind. Das Stück ist nicht nur in horizontale Übeabschnitte zu gliedern (um den Einzelstimmverläufen musikalisch gerecht zu werden), sondern auch in vertikale (die wiederum die akkordisch-harmonikalen Zusammenhänge berücksichtigen). Nur die Einzelstimme vermag den Aufbau einer musikalischen Spannung zu verdeutlichen. Nicht jede Stimme im Stück hat die gleiche Funktion, manchmal auch gegenläufige Affekte (Dialog, Kontrast, Dynamik, Akzent etc.)
Musikalische Spannungsverläufe sind Träger des Geschehens. Dieses ist nicht abstrakt, selten in seiner Bandbreite nur spontan wahrnehmbar. Erst durch das Singen und das damit verbundene Nachhören gelingt eine umfassende Vergegenwärtigung der Musik, die Vorbild für das instrumentale Nachschaffen ist. Die gesungene Linie, nicht das vorgespielte Stück durch den Lehrer, ist die Maßgabe des eigentlichen Übens!