Fahl strahlt die flackernde Neonlampe herab und hüllt den
Raum in ein kaltes Licht.
Mich friert ein wenig.
In der Mundhöhle meines Hintermannes führt ein Wrigley
Spearmint einen einsamen Kampf gegen den Zaziki-Geruch.
Nichts passiert.
Langeweile.
Grau in Grau.
Plötzlich von vorn eine Stimme: "Der Tenor bitte!"
"Naaaaaaaa", gibt der Dirigent langanhaltend dem Tenor
als C an.
"NAAAAAAAAAAAAA", bröselt es vielstimmig vom Tenor
rechts in mein Ohr.
Ich finde diese Chorprobe so arm und so leer...
Einfach farblos.
Und die Lieder...
Wenn es wenigstens einmal etwas Anderes, völlig Neues geben
würde! Mir entweicht ein Seufzer. Aber nein, im Gesangbuch
gibt es ja nur evangelische Choräle und Erweckungsliedgut.
In der Mappe zudem noch einige Lieder in klassischen Stilen... Bei
dieser Auswahl lehnen sich viele junge Leute gähnend zurück.
Mein
Blick wandert ziellos durch den Raum. In der Bankreihe vor mir steckt
die Rückseite einer "Unsere Familie". Oben steht:
"Schwungvolle und mitreißende Songs." In Knallorange!
Ich tippe der Nadja im Alt vor mir auf die Schulter.
"Sag' mal, was ist denn das für eine Werbung?", frage
ich.
"Na, für das neue Gospelbuch.". Nadja schaut mich
erstaunt an, als wenn ich irgendetwas verpasst hätte.
"Endlich einmal Musik für uns Jugendliche! Ich hab's gerade
vom Verlagsbeauftragten erhalten, magst mal gucken?"
"Hey, supa". Wow, die Stunde scheint gerettet!
Opa Karl entfleucht ein schräges gis, das ungefiltert an meinem
Trommelfell zerschellt.
Mein Hintermann kaut bedächtig sein Kaugummi, und der Kampf
des Kaugummis gegen den Mundgeruch wird immer hoffnungsloser. Was
soll's. "Open up wide" heißt dieses Buch. Gospels,
Spirituals und African Songs! Für die NAK! Waaaahnsinn! Wo
es doch jahrzehntelang hieß, daß Formen des Jazz nicht
zum Rühmen und Loben der Ehre Gottes tauglich seien...
Nur schnell durchblättern! Nach einer vierseitigen, gut zu
lesenden, aber ingesamt knapp gehaltenen Einführung in die
Historie und Aufführungspraxis von Gospels blicke ich den ersten
Noten entgegen. Es sind Chorsätze für vierstimmigen gemischten
Chor, manche mit Klavierbegleitung und Akkordangaben für GitarristInnen.
Wow! Welch farbenfrohe Musik! Meine Begeisterung kennt keine Grenzen,
und schon summe ich die erste Melodie. Hey, das swingt ja richtig!
Upps - ich war wohl ein wenig zu laut. Mein Hintermann murmelt
mir etwas Unverständliches ins Ohr, und mit seinem Zaziki-Geruch
umweht mich ein Hauch des Todes.
Eine Neonröhre an der Decke beginnt zu flackern.
Mich stört dies nicht. "Doch ich bin so glücklich,
mir fehlet nichts mehr", denke ich, und nun schaue ich mir
die einzelnen Gospels und Songs einmal genauer an. Ich gewinne den
Eindruck, daß alle Schwierigkeitsgrade abgedeckt sind, auch
wenn tatsächlich leichte Lieder eher die Ausnahme sind. Dafür
lohnt sich bei den schwereren Liedern der Aufwand: bei ihnen geht
richtig die Post ab, man kann grooven, was das Zeug hält. Mensch,
sind das lebendige Songs voll Temperament und Esprit! Vor allem
die Songs mit Klavierbegleitung begeistern. Es fehlen nur noch die
Klaviere in den Kirchen. Und mit der Orgel? - Aber nein, das hört
sich zu steif, zu unlebendig an. Also besser nicht.
Bei den Harmonisierungen gibt es in vergleichbaren Gospelbüchern
teilweise bessere und kreativere Einfälle. Man sollte also
vergleichen, was in anderen Gospelbüchern vorhanden ist und
sich in der Praxis nicht nur auf dieses Buch beschränken. Dennoch
finde ich in diesem Buch eine große stilistische Bandbreite:
von Swing-Arrangements über traditionelle Wechselgesänge
und bluesig angehauchten Gospels über eher homophone Sätze
bis hin zu ausgefeilten rhythmisch komplexen Grooves ist ein großes
Repertoire an Stilen abgedeckt. Rap, Fingersnippen, Walking Bass:
alles vorhanden. Viele Stücke erscheinen auf den ersten Blick
vor allem rhythmisch recht schwierig. Aber genau diese erscheinen
lohnenswert.
Welch farbenfrohe Musik!
Zum Schluß: Einsingübungen - leider für Gospel-Bedürfnisse
zu wenig. Nur eine geht auf die spezielle Gospel-Rhythmik ein. Gut
gefällt mir, daß die Texte im Anhang ins Deutsche übersetzt
sind. Denn dies sorgt auch für ein ausre...
"Dietmar, paßt Du denn heute gar nicht auf?", schallt
es durch den ganzen Raum, um sich schließlich in meine Gehörgänge
hineinzufressen.
Der Dirigent schaut mich grimmig an. O.K.- er hat recht, in der
Gesangstunde sollte man schon aufpassen.
Schnell tippe ich nochmals Nadja auf die Schulter. Sie reicht mir
die Anzeige in der "Unsere Familie". Ich lese: "Preis:
19.90 DM". Das ist eine Ansage! Dieser Preis für ein 158
Seiten starkes Buch in DIN-A4-Größe erscheint bei der
gebotenen Vielfalt als ein echtes Sonderangebot. Da verschmerzt
man auch den wenig vertrauenerweckenden "flexiblen Einband".
"Der Baß bitte!"
So, nun bin ich wieder dran.
Die Neonlampe hat nun aufgehört zu flackern.
Der Raum wirkt düster.
Dunkelgrau in dunkelgrau.
Wenn da nicht "Open up Wide" als Farbtupfer wäre.
Ein Hoffnungsschimmer, bereit zum Ausbrechen aus dem stilistischen
Grau in Grau.
Eine Hoffnung, daß dieses Buch auch in den Gottesdiensten
Verwendung finden würde. Mindestens in den Jugendgottesdiensten.
Eine Hoffnung, daß auch andere Stile bald ihren Beitrag zum
musikalischen Farbspektrum beitragen werden.
"Naaaaa", ertönt es von vorne in der Tonhöhe
C.
Mein Hintermann wickelt sein Kaugummi in ein Taschentuch.