Zu diesem Programm liegen zwei Rezensionsvarianten vor:
eine umfangreiche, detaillierte Vollrezension mit
genau begründeten Beschreibungen der Stärken und Schwächen
des Programms (52 KB)
eine Kurzbewertung zur schnellen Information über
das Produkt.
Für weitergehende Informationen oder aber für genaue Beispiele
linken einzelne Begriffe in der Kurzrezension zu den entsprechenden Stellen
im Text der Vollversion.
...alle Jahre wieder
kommt das Weihnachtsfest
auf die Erde nieder
was den Diri streßt.
So klingt es wohl im Inneren einer jeden DirigentIn, wenn er/sie an die
bevorstehende Weihnachtsfeier in ihrer/seiner Gemeinde denkt.
Schließlich beliebt es der anspruchsvolle Gemeinde von heute, zu solchen
Gemeindefeiern etwas musikalisch nicht Alltägliches kredenzt zu bekommen.
"Ach, wenn ich doch komponieren könnte", hört man dann den geplagten
Dirigenten seufzen, "dann könnte ich meiner Gemeinde doch etwas Besonderes
anbieten, eine vierstimmige Chorversion von 'O du fröhliche' zum Beispiel,
die noch nie zuvor das Licht der Welt erblicket hat."
Und siehe da, aus den unendlichen Weiten des Internets (und der Musikmesse
Frankfurt) schallt plötzlich die frohe Botschaft des Softwareherstellers
WHC: "Wohl denen, die da tonica haben, denn ihnen wird geholfen werden!"
tonica - ein Programm, welches nach
Herstellerangaben selbständig
"im Stile alter Meister" komponieren könne; man brauche nur die Melodie
eingeben, und der Computer mutiere zum eigenen Haus-und-Hof-Compositeur.
Dabei soll der Computer den Kompositionsstil von Bach und Reger imitieren
können und einen vierstimmigen Satz abliefern, der sich fast so schön
anhöre, als wenn er von den "echten" Komponisten konzipiert worden
wäre.
Soweit die Versprechungen. Bevor aber nun gejubelt und gejauchzt werden darf,
sei einmal kritisch betrachtet, ob denn nun mit tonica der kontrapunktierende
Computer eine katastrophale Kackophonie, oder aber eine kongenial konzipierte
Komposition konstruiert. Der PC und die Muse - funktioniert diese Synthese?
Voreinstellmöglichkeitensind in
ausreichendem Maße vorhanden. Man kann nicht nur zwischen den
Kompositionsstilen Johann Sebastian I", "Johann Sebastian II" und "Max Reger"
wählen, sondern auch den Harmonisierungsrhythmus definieren - d.h., ob
die Akkordfolge der Begleitung in Achtel-, Viertel-, oder Halbenoten zu
Papier; pardon: zu Monitor gebracht werden soll -, sich alternative
Harmonisierungsvorschläge geben lassen, Umspielungen der Akkorde setzen
lassen und noch etliches mehr. Zudem besitzt tonica die Fähigkeit, die
gewählten Akkorde zusätzlich entweder funktionstheoretisch,
stufentheoretisch oder im Roman-Numeral-System (in Großbritannien
gebräuchlich) zu analysieren und unter dem Notensystem zu
benennen. Auch eine automatische Erkennungsfunktion von offenen und
verdeckten Quintparallelen ist eingebaut.
Die Bedienoberfläche ist übersichtlich und läßt sich
intuitiv bedienen; schnell ist man mit den Funktionen des Programms vertraut.
Die Konfrontation von Bach mit dem Wohltemperierten Computer verläuft
nicht ohne Verluste zuungunsten der Musikalität. Schon bei dem Versuch,
eine normale Melodie wie z.B. GB191 "Kommt her,
ihr seid geladen" harmonisieren zu lassen, zeigen sich etliche Schwachpunkte
des Programms: Es entstehen in allen Stilversionen "Johann Sebastian Bach
I", "Johann Sebastian Bach II" und "Max Reger" satztechnische Fehler,
welche von etlichen verdeckten Quintparallelen
bis hin zu übermäßigen
Schritten reichen. Dabei zeigt sich, daß die Erkennungsfunktion
von offenen und verdeckten Quintparallelen nicht hundertprozentig einwandfrei
funktioniert. Obwohl tonica eine ganze Bandbreite von Akkorden kennt, ist
die Wahl der Akkorde stellenweise recht
unglücklich; sie wirken teilweise zusammenhanglos aneinandergereiht.
Und auch die Bezeichnungen der
Akkordfunktionen sind dann und wann falsch.
Eine kontrapunktische Ausarbeitung der
einzelnen Stimmen ist in den verschiedenen Versionen der Bach-Surrogate nur
ansatzweise realisiert. Besser sind die Versionen im Stile Max Regers, in
welchen die Einzelstimmen vor allem rhythmisch recht eigenständig gestaltet
werden.
Diese Eindrücke bestätigen sich beim Betrachten der Harmonisierungen
anderer Melodien. Zudem zeigen sich die in tonica implantierten Komponisten
nicht gerade von ihrer kreativen Seite, wenn es darum geht, z.B. eine Melodie
zu harmonisieren, die relativ eintönig ist
(GB 512 "Wunderbarer König").
Wo hier einfallsreiche Ausgestaltung der Begleitstimmen gefragt ist, weil
die Melodie kaum Reize zum Hinhören anbietet, werden stattdessen nur
Akkorde in immer gleicher Form wiederholt. Dadurch sinkt allerdings die
satztechnische Fehlerrate...
Zudem ist tonica nicht imstande,
Ausweichungen oder gar vollständige
Modulationen zu setzen, ebenso scheitert
tonica bei dem Versuch, kirchentonale
Melodien sinnvoll dur-/molltonal zu harmonisieren. Wenn diese erstellten
Klänge tatsächlich ihren Weg durch die Gehörgange gefunden
und sich nicht wegen ihrer Sperrigkeit bereits im oberen Schneckengang des
Ohrs verkantet haben, ist es bis zu einem ernsten Gespräch mit dem
Musikfachberater bestimmt nicht mehr weit... Dafür sind die
tonica-Versionen von Liedern der
Erweckungsbewegung teilweise wirklich
verwendungsfähig und manchmal sogar besser als unsere Gesangbuch-Versionen.
Vermißt wird die Möglichkeit, Triolen einzugeben, womit eine
Harmonsierung von Liedern wie z.B. GB 299 "Geht es auch durch Sturm und Wetter"
leider ausgeschlossen ist. Eine weitere Einschränkung bedeutet es, daß
nur der Sopran vorgegeben werden kann. Einmal zur Abwechslung den
cantus firmus in den Tenor oder Baß setzen - da treten die angeheuerten
Komponisten Bach und Reger in den Streik. (weitere
Mängel)
Fazit
Insgesamt läßt sich sagen, daß die qualitative Bandbreite
der von tonica erstellten Sätze von verwendungsfähig bis
hin zu musikalischer Nonsens reicht. Die meisten Varianten sind dabei
höchstens eingeschränkt brauchbar. Lösen muß man sich
aufgrund der ausgezählten Mängel von der Illusion, daß diese
erstellten Sätze so gut seien wie die von Bach oder Reger, oder aber
ihren Stil genau repräsentieren. Die Personalstile von Bach oder Reger
werden höchstens angedeutet. Zudem kann nicht der Anspruch erhoben werden,
daß die geschaffenen Sätze satztechnisch fehlerfrei seien, oder
aber daß die Quintparallelen-Erkennungsfunktion bzw. die
Harmoniebezifferungsoption einwandfrei funktionieren würden.
Nun - die tonica-Sätze sind immer noch besser als so manche
stümperhafte Eigenkreationen etlicher Dirigenten. Dennoch erscheint
es angebrachter, den veranschlagten Preis von 128 DM in einen
Harmonielehrekurs an der örtlichen Musikschule zu investieren. Sofern
man sich tonica zulegt, um etwas Abwechslung in den Chor zu bringen, sei
die Idee erwähnt, dieses Geld besser für entsprechendes Notenmaterial
auszugeben. (vgl. auch Fazit der Vollrezension).
Natürlich könnte dieser Rat vielleicht anders ausfallen, wenn nicht
die Demoversion, sondern eine Vollversion zur Begutachtung vorgelegen
hätte. Eine Demoversion soll aber positiv zu einer Kaufentscheidung
beitragen, was in diesem Fall allerdings überhaupt nicht gelingt.
Der PC ist demnach doch nicht von der Muse geküßt
worden.