Aber ich habe doch mehr als eine halbe Stunde Klavier gespielt ...",
diese oftmals gehörte Mär', gern angewandte Kommentierung des eigenen, noch unfertigen Vortrages birgt den Beginn einer zu korrigierenden Übehaltung schon in sich.
Denn die größten Barrieren bei der Aneignung der Musikliteratur betreffen psychologische Phänomene, weniger das spieltechnische Vermögen oder mangelnden Fleiß. Aus ihnen ergeben sich die methodologischen Fehlleistungen. Diese wiederum zu korrigieren, gelingt nur dann, wenn die in Wahrheit auslösenden Momente behandelt werden. Das ineffektive Üben des Schülers am Instrument ist ein struktureller Mangel, der seine Ursache in der Konzeption und Durchführung der "normalen" Instrumentalunterrichtseinheit hat.
Was steht am Beginn? Es ist die Zielformulierung. So, wie der Lehrer das Stück vorgespielt hat, so muß es klingen, wenn es "abgeliefert" wird. Abgesehen von einer recht fragwürdigen Beschreibung der Lehrerfunktion bleibt das Üben hier ganz außen vor. Das Vorspielen des Stückes durch den Lehrer löst beim Schüler neben Bewunderung und Begeisterung für das Stück und die musikalischen Fähigkeiten des Lehrenden vor allem die eigene Ohnmacht aus: "So kann ich das nicht, schon gar nicht werde ich das bis zur nächsten Woche erreichen."
Instrumentalpädagogen machen oftmals die Erfahrung, dass schon hier Grundängste zum Tragen kommen, sich überhaupt der Aneignung des Stückes zu stellen. Trotzdem besteht mancher Unterricht immer noch überwiegend aus "Vormachen - Nachmachen". Was ist dagegen "sinnerfülltes Üben"? Wie ist angstfreies Üben zu erzielen? Sinnerfülltes Üben ist mehr als die Erfüllung einer musikalisch-technischen Vorgabe durch den Lehrer.
Was ist sinnerfülltes Üben am Klavier oder an der Orgel?
Sinnerfülltes Üben bedeutet immer "schöpferisches" Üben, das die Physiognomie der ganzen Persönlichkeit in sich aufnimmt. Es ist mehr, als aus der Situation des Unvermögenden heraus in den Status des Könnenden hinein zu gelangen. Wer das Üben auf die Wegstrecke zwischen A (= Nichtkönnen) und B (= Können) reduziert, lässt wesentliche Aspekte der künstlerischen Persönlichkeit eines jeden Menschen außer Acht. Welche negative Bewertung kommt dem Übevorgang, der langen Zeit am Instrument zu, wenn sie permanent der Überwindung der eben noch gegenwärtigen Spielverfassung dient? Löst es nicht Scham aus, wenn man an die ersten Gehversuche bei einem neu aufgegebenen Literaturstück zurückdenkt? Diese Scham und der permanente Schatten, es möglicherweise nicht zu bewältigen, schon gar nicht bis zum nächsten Termin, haben endgültig als Triebfeder beim Üben ausgedient!