Er hat es getan.
Eiskalt.
Mein Vorsteher.
Und dabei ist er doch so ein etwas unscheinbarer, älterer, netter Mensch.
Emotionslos und ohne jegliche Mimik hat er das Plakat an die Pinwand der
Kirchengemeinde aufgehängt.
Ein gelbes Plakat.
Ohne Kirchenemblem drauf.
Wochenlang lädt es nun ein.
Zu einem Konzert, welches nicht von der NAK organisiert und veranstaltet,
aber zumindest unterstützt wird.
Das Orchester: confido camerata. Nie gehört...
Der Dirigent: Bodo Saborowski. Immerhin bekannt durch
die musikalische Leitung des NRW-Jugendtages 1999 sowie die CD
"Ja, mein Herz und Leben".
Das angekündigte Programm: Schuberts Rosamunden-Ouvertüre,
Klavierkonzert A-Dur von Mozart, und last not least wieder Schubert
mit seiner "Unvollendeten". Hört sich interessant an, es wird
eine niveauvolle, ausgewogene Musikauswahl versprochen. zum
Programmheft
Der Solo-Pianist: Roland Pröll. Nun, endlich eine
bekannte Größe. Pröll ist immerhin kein Noname-Klimperer, sondern
angesehener Konzertpianist, Begründer des internationalen Schubert-Wettbewerbs,
virtuoser Interpret auf etlichen CD-Einspielungen, um einige Merkmale
seiner Karriere zu nennen.
Der Aufführungsort: die neugegründete Musikakademie im
Ibach-Hausin Schwelm bei Wuppertal.
Auch eine Novität.
Wenn dieses verflixte Plakat doch nicht wäre... - aber nun ist es schon
zu spät, das Interesse ist erbarmungslos geweckt.
Im Vorfeld erfährt man, daß dieses Orchester eine Neugründung aus
einer privaten Initiative heraus ist und fast ausschließlich aus
neuapostolischen Musikern besteht. Ein Großteil von ihnen sind Profimusiker,
Musikstudenten oder aber ambitionierte Laien. Ein einziges Intensiv-Probenwochenende
und eine Generalprobe sollen genügen, um dem erwartungvollen Publikum
ein anspruchsvolles musikalisches Artefakte präsentieren zu können.
Ein einziges Probenwochenende ? Und dies bei einem neu gegründeten Orchester?
Mir läuft es kalt den Rücken herunter. Vor meinem geistigen Auge male
ich mir die Trööt-Rassel-Blöök-Geräuschkulisse eines Pseudo-Schulorchesters
á la Simpson-Fernsehserie aus...
Am Samstag, den 5.2.2000, ist es endlich
soweit. Mit gemischten Gefühlen betrete ich den Konzertraum. Der Raum
ist klein, eigentlich zu klein für ein Orchester. Und eng ist es, sehr
eng. In der Ecke des umgebauten Verkaufsraumes stehen ein paar zusammengepferchte
Klaviere. Und voll wird's - mit über 350 anwesenden Personen ist der Raum
bis auf den letzten Platz besetzt. All dies macht zusammen einen interessanten
Charme aus, der sich nicht so ohne weiteres in Konzertsälen wiederfinden
läßt: es wird "Musik zum Anfassen" geben. Die Musik eines Sinfonieorchesters
als Hausmusik! In dieser unkomplizierten Atmosphäre durchzieht
mich langsam ein Wohlgefühl.
Blick über das Orchester aufs Publikum
Leise erklingen die ersten Töne der Ouvertüre "Die Zauberharfe"
von Schubert (Rosamunden-Ouvertüre, D 644). Sofort fällt die
schlechte Akustik des Raumes auf, die eigentlich eher kammermusikalischen
Ansprüchen gerecht wird. Die Töne des Orchesters finden trocken und direkt
ihren Weg zum Publikum. Dadurch wirkt das Spiel allerdings auch ungewohnt
transparent, und auch kleinste Fehler bleiben nicht verborgen. So auch
nicht die anfänglichen Unsicherheiten vor allem in der Intonation. Doch
dann - der Satzteil "Allegro vivace" der Ouvertüre beginnt, und die anfänglichen
Vorurteile weichen einem ehrfürchtigen Staunen. Welch faszinierende
Präzision! Welch ein Temperament, was für ein lebendiges, nuancenreiches,
spannungsvolles Spiel! Und dies soll ein Orchester sein, das sich gerade
erst gegründet hat? Hier ist es nicht bemerkbar, der Dirigent Bodo Saborowski
hat ganze Arbeit geleistet.
Roland Pröll am Flügel
Die Spannung steigt. Mozarts Klavierkonzert
A-Dur (KV 414) soll zu Gehör gebracht werden. Vom ersten Ton
an werde ich von Roland Prölls transparentem, perlenden, kristallklaren
Spiel gefesselt. Pröll entführt mit seinem gesanglichen Spiel in eine
Klangwelt, in welcher Töne mit einer leichten Selbstverständlichkeit existieren,
als wenn sie schon immer - so und nicht anders! - in der dargebotenen
Form dagewesen wären und nur mal eben zu Gehör gebracht werden müßten.
Im zweiten Satz überwältigt mich die Faszination klanggewordener Ruhe,
die gerade von einzelnen, präzise herausgearbeiteten, leisen Tönen ausgeht.
Das Orchester verhält sich hierbei nicht aufdringlich, sondern leistet
seinen Beitrag zur Unterstützung dieser Klangwelt. Es lassen sich zwar
einige Unsicherheiten ausmachen, diese bleiben allerdings im akzeptablen
Rahmen und sind aufgrund der kurzen Vorbereitungszeit mehr als verständlich.
Die Mozart-Interpretation ist gelungen, so daß das Publikum
den Vortrag schließlich mit gebührendem Applaus honoriert und eine Zugabe
von Pröll (Chopin, Nocturne Des-Dur) herausfordert. In der Konzert-Pause
sind erste begeisterte Äußerungen des Publikums zu hören.
Nun naht der Höhepunkt. Ohne Sensibilität für den Facettenreichtum
verschiedenster Klangfarben und die ästhetisierten Emotionen dieser
Sinfonie kann Schuberts "Unvollendete" (Sinfonie h-moll,
D 759) schnell zu einem undefinierbaren Klangbrei verkommen. Expressiv
und geheimnisvoll beginnen die Celli und Kontrabässe ihr leises Spiel.
Sofort ist wieder das Gefühl da, von der Musik hinweggetragen zu werden.
Die übrigen Streicher setzen ein; piano und sensibel versprühen sie
eine dunkle Atmosphäre. Dann: darüber eine cantable, sensibel gestaltete
Melodie. Wunderbar! Diesen Schubert erlebe ich - obwohl schon oft gehört
- sehr intensiv. Vor allem in leisen Passagen gelingen herrliche meditative
Momente. Die Farbigkeit der verschiedenen Klangstrukturen wird vom fähigen
Dirigenten hervorragend verdeutlicht, ebenso wie es ihm gelingt, eine
permanente Spannung zu erhalten, was diese Sinfonie recht lebendig wirken
läßt. Zusammen mit den gut herausgearbeiteten Melodiebögen zeichnet
das Orchester ein rundes und ausgewogenes akustisches Bild.
Der letzte Akkord erklingt.
Stille.
Langsam senkt sich die Hand des Dirigenten.
Und subito setzt der tosende Applaus des Publikums ein, der mehr als
berechtigt ist.
Und ich - ich muß meine anfängliche Skepsis grundlegend revidieren.
Zwar ließen sich einige Schwächen im Zusammenspiel und Intonation nicht
leugnen - sie sind aber auf die kurze Probezeit zurückzuführen und absolut
tolerierbar, weil sie das Konzerterlebnis nicht trüben konnten. Und
je mehr ich darüber nachdenke, desto größer wird mein Respekt vor
der dargebotenen, weitgehend professionellen Leistung der anscheinend
hochmotivierten Orchestermusiker und ihrem Dirigenten Bodo Saborowski.
Wie gut mögen erst zukünftige Konzerte werden, wenn mehr Routine in
das Orchester einkehrt ?
Ich werde den Weg dieses Orchesters weiter verfolgen. Es lohnt sich
bestimmt.
Ach - übrigens:
Meinen Vorsteher habe ich leider nicht unter den Zuschauern erblickt.
Schade eigentlich.
Denn er hat was verpasst.
Und dabei ist er eigentlich alles in Schuld.
Schließlich hat er das Plakat aufgehängt....